Hannes Wader
Erinnerung
Ich erinnere mich zurück
Bis in mein drittes Lebensjahr
Da schickte mir mein Vater
Der in Norwegen war
Als Soldat um die Weihnachtszeit
Eine Eisenbahn aus Holz
Sie wurde meine Liebe und
Ich spielte voller Stolz

Mit der Lok, aus deren Schornstein
Dicke, weiße Watte quoll
Lud sie jeden Tag mit Kohle
Sand und andern Gütern voll
Wenn ich des Nachts, die Lok im Arm
Auf meinem Kissen schlief
Geschah es oft, dass ich im Traum
Nach meinem Vater rief

Dass er trotzdem niemals kam
Konnte ich noch nicht verstehen
Und so fasste ich den Plan
Zu ihm nach Norwegen zu gehen

Ja vielleicht, sind wir Menschen
Nur dazu geboren
Um ruhelos zu suchen bis zum Schluss
Auch ich habe
Irgendwann einmal etwas verloren
Was mir fehlt und was ich wiederfinden muss
Eines Morgens, in der Dunkelheit
Es war im Januar
Zog ich mich mühsam selber an
Die Luft war kalt und klar
Ich koppelte die Wagen an
Im ersten Morgenrot
Im einen lag ein Apfel und im andern ein Stück Brot

Doch ich kam nur langsam vorwärts
Denn die Straße war verschneit
Schon fast Nach-mittag
Und der Weg nach Norwegen noch weit
Mir gefror der Rotz am Ärmel
Und da stand ich winzig klein
Fing an zu weinen
Schlief dann bald im Straßengraben ein

Der Briefträger
Der durch Zufall dort vorüber kam
War es, der mich fand
Mich halb erfroren mit nach Hause nahm

Ja vielleicht, sind wir Menschen
Nur dazu geboren
Um ruhelos zu suchen bis zum Schluss
Auch ich habe
Irgendwann einmal etwas verloren
Was mir fehlt und was ich wiederfinden muss
Frühjahr 45 war der Krieg dann endlich aus
Doch statt Vater kam ein Onkel Eduard nach Haus
Das war Vaters Bruder
Und ich weiß es noch genau
Wie er ankam, den Soldatenmantel
Abgerissen - grau

Aber ich, so sagte Mutter später
Stürtzte mich auf ihn
Onkel "Papa", Onkel "Papa"
Habe ich immer nur geschrien
Am nächsten Tag als ich mit ihm
In Omas Küche saß
Sprach er nicht ein Wort mit mir
Sondern schimpfte auf den Fraß

Und vor Hass auf seine Mutter
Warf er, warum weiß ich nicht
Ihr den vollen Teller
Mit dem heißen Grünkohl ins Gesicht

Ja vielleicht, sind wir Menschen
Nur dazu geboren
Um ruhelos zu suchen bis zum Schluss
Auch ich habe
Irgendwann einmal etwas verloren
Was mir fehlt und was ich wiederfinden muss
Oft habe ich gebettelt
Um ein bisschen Liebe
Wie ein Hund
Doch stattdessen schlug mein Onkel mich
Und meistens ohne Grund
Manchmal nahm er die Trompete
Machte sich zum Ausgehen fein
Meist in lauen Vollmond-Nächten
Und man konnte sicher sein
Dass im Dorfe jeder lauschte
Und die Fenster offen ließ
Wenn er dann vom Berg herunter
Traurig schöne Lieder bließ

Vorher ging er in die Kneipe
Und dort soff er sich in Wut
Verprügelte die Gäste
Wenn er, dann im eignen Blut
Morgens vor der Haustür lag, hatte
Er noch Kraft genug, dass er mit der
Blutbesudelten Trompete nach mir schlug

Ja vielleicht, sind wir Menschen
Nur dazu geboren
Um ruhelos zu suchen bis zum Schluss
Auch ich habe
Irgendwann einmal etwas verloren
Was mir fehlt und was ich wiederfinden muss

Meine Eisenbahn aus Holz war längst zertrümmert
Und verbrannt. Und auch Norwegen erschien mir so
Wie jedes and're Land
Und auch Vater kam nach Hause
Ein Jahr später, irgendwann
Als er sagte wie er aussah
Ich erinn're mich nicht dran

Fand auch später, als ich größer wurde
Nie mehr diesen Ton
Nun ihr wisst schon was ich meine
Dies Verhältnis Vater - Sohn
Mein Gefühl für ihn
Das hatte schon ein anderer verbraucht
Wie ein Feuer ausgebließ
Das dennoch ewig weiter raucht

Doch ein Funke von Vertrauen
Ist noch da und irgendwann
Will ich glauben, kommt ein Wind
Und bläst das Feuer wieder an

Ja vielleicht, sind wir Menschen
Nur dazu geboren
Um ruhelos zu suchen bis zum Schluss
Auch ich habe
Irgendwann einmal etwas verloren
Was mir fehlt und was ich wiederfinden muss

La da da