Hannes Wader
Boulevard St. Martin
Nein ich werde dieses mal nicht in den Louvre gehen
Nicht das Floos der Medusa, nicht die Mona Lisa sehen
Pas le Cimetière du Père-Lachaise, le Mur des Fédérés
Nicht im pied de chochon zu Mittag speisen, nein ich geh
Zum Boulevard St Martin, Hausnummer 11, stelle mich davor
Und berühre mit der Hand, ohne dass ich den Hof betrete
Den Hof betretе, das Eingangstor

Dann schließe ich die Augеn, seh' denselben Boulevard
Nur um Jahrzehnte zeitversetzt, da geht ein Mann auf dem Trottoir
Männer in Gestapo-Ledermänteln folgen ihm, die Hand
Locker an der Waffe, sicher das weder Flucht noch Wiederstand
Mehr von diesem mageren Juden zu erwarten steht
Der zerlumpt, halb totgeschlagen und scheinbar gebrochen
Scheinbar gebrochen, dort vor ihnen geht

Er gibt trotz der Schläge, trotz der Folter nicht einen Namen preis
Aber ein versteckter Resistance von dem er sagt, dass er weiß
Wo es sich befinden könnte, wenn auch nur so ungefähr
Und tut so als wüsste er die genaue Hausnummer nicht mehr
"Ich führ euch hin", sagt er zu den Nazis, "folgt mir nach ich geh
Auf den Boulevard St Martin und ich gebe euch ein Zeichen
Euch ein Zeichen, sobald ich es seh’"

Aus dem Augenwinkeln sieht er dann so im vorübergehn
Den Eingang von Hausnummer 11 einen Spalt breit offen stehn
Hastet los und mit letzter Kraft springt er durch das Tor
Dreht sich schnell um, schlägt es zu und schiebt den Riegel vor
Rennt durch den Hof zum Hinterausgang und kommt bei dem Haus
Nummer 18 in der Rue Mesley als freier Mann und lebend
Und lebend wieder heraus
Er taucht ab, nur für kurze Zeit und geht in den Untergrund
Seine Frau und Kameraden aus der Resistance pflegen ihn gesund
Doch bald schon kämpft er weiter unermüdlich und er erhebt
Von nun immer wieder seine Stimme bangt solang er lebt
Vor dem Vergessen ruft er auf zur Wachsamkeit, zum Wiederstand
Dass niemals wieder Krieg, nie mehr Faschismus ausgehen solle
Ausgehen solle, von diesem Land

Nein zugegeben, über so viel Mut wie du verfüge ich nicht
Nicht über dein Vertrauen in die Menschheit, deine Zuversicht
Aber während meine Hand noch immer dieses Tor berührt
Dein Tor zur Freiheit Peter Gingold habe ich nicht nun gespürt
Dass mein Herz ganz plötzlich viel kräftiger und freier schlägt
Ich kann sogar fühlen wie sich jetzt etwas von deiner Stärke
Von deiner Stärke auf mich überträgt