Hannes Wader
Gewalt
Wieder liegst du wach, an Schlaf ist nun nicht mehr zu denken
Und du weißt es längst, mach dich auf eine lange Nacht gefasst
Mit Ängsten, drückenden Gedanken, die du weder lenken
Noch verjagen kannst, was du in dir vergraben hast
Seit deinen Kindertagen, was du niemandem erzählen
Nur vergessen wolltest, all das kommt um dich zu quälen
Nun wieder hoch: Böse Erinnerungen in Gestalt
Von Verlassenheit in mitten Willkür, Rohheit und Gewalt

Wie lange liegen diese Ereignisse zurück? 50, 60 Jahre?
Na und, auch sie haben dich geprägt und sie werden dich begleiten bis zu deinem letzten Atemzug

Du sahst wie der fromme Bauer seine altersschwache Stute
Mit einem bleibeschwerten Peitschenstiel zu Boden schlug
Das Bund Stroh anzündete als das Tier in seinem Blute zuckend
Auf dem Feld lag im Geschirr verheddert vor dem Pflug
Den Bauch verbrannt und danach hörtest Du in deinen Träumen
Noch oft den Schrei des Pferdes beim Versuch sich aufzubäumen
Du weißt es noch als Mutter dich nachts weckte sagte sie
Das es nicht das Pferd war, sondern nur du selbst, der da so schrie

Nun du Format Bauer, über dich steht etwas in der Bibel
Schlag die Sprüche Salomos auf, Kapitel 12 Vers 10 und lies:
Der gerechte erbarmt sich seines Viehs
Aber das Herz des gottlosen ist unbarmherzig
Sie lachte gern, die Heiterkeit war ihr wohl angeboren
Und gleich am Tag nach ihrer Hochzeit hat Tante Sophie
Von ihrem Mann halb totgeschlagen den Verstand verloren
Denn als sie danach schwer verletzt aufwachte, lachte sie
Hinkte später oft mit hochgeschürzten Röcken, zierlich kleinen
Tangoschritten auf und ab, du sahst an ihren Beinen
Die Blutergüsse, Striemen, frische Wunden, alten Schorf
Doch Sophie in ihren Holzschuh'n tanzte lachend durch das Dorf

Tante Sophie ist früh gestorben
Aber ihr Mann, auch er starb geistig verwirrt hat noch lange bei ihrer gemeinsamen Tochter gelebt
Bei ihm wurden nach seinem Tod ebenfalls Spuren schwerer körperlicher Misshandlungen festgestellt

SS-Mann Erich Holt an Krücken vor der Gartenpforte
Noch bei Kriegsschluss hinterrücks von deutschen Landsern abgeknallt
Rief einbeinig, einäugig Frauen gern obszöne Worte
Nach und Gerd ein Nachbarsjunge nicht mal fünfzehn Jahre alt
Sagte: "Meine Mutter darfst Du Nazischwein nicht Hure nennen!"
Erich Holt bat um Verzeihung und Gerd anstatt wegzurennen
Gab ihm darauf die Hand, zum Schein griff Erich Holt danach
Um mit der Krücke zuzuschlagen, die Gerd beide Beine brach

Und Du hast alles mit angesehen, wieder Alpträume bekommen und dich Tagelang geweigert zur Schule zu gehen, weil der Weg an Erich Holts Gartenpforte vorbei führte
Ein Nachbar sagte damals zu deiner Mutter: "Der Bengel soll sich doch nicht so anstellen, gib ihm ein paar hinter die Löffel."

Dann hast du begonnen, dich für deine Weichheit zu verachten
Wolltest keine Furcht mehr fühlen, nicht das Grauen nicht den Schmerz
Der Erniedrigung empfinden über die andre nur lachten
Wie über einen zu derben nicht so ganz geglückten Scherz
Es gelang dir nicht und Hassgedanken haben angefangen
In dir zu keimen und als wäre die Saat aufgegangen
Wuchs aus dem Gefühl der Ohnmacht wie aus einem Samenkorn
In dir selbst dieser gewaltbereite und furchtbare Zorn
Dabei wissen wir doch, sagt ein anderer Dichter in einem anderen Zusammenhang:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge
Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser

Nur gut dass dich die düsteren Gedanken und Dämonen
Nur des Nachts verfolgen und sie werden dich verschonen
Ihre Macht verlieren schon beim ersten Dämmerlicht
Und wie ein Spuk verschwunden sein, sobald der Tag anbricht