Reinhard Mey
Begegnung
Jeden Tag kam sie mir entgegen
Und ich gewöhnte mich daran
Wie man an das, was man oft hört und sieht
Sich eben gewöhnen kann

Ich nahm es kaum wahr, dass Tage kamen
An denen sie nicht erschien
Dann ging sie wie immer an mir vorüber
Und diesmal sah ich genauer hin

Sie sah mich und wurde ein klein wenig rot
Und ich, obwohl ich nicht schüchtern bin
Wusste auf einmal mit meinen Händen
Nicht mehr so recht wohin

Ich habe mich nie nur zum Vergnügen
Mit Zahlen und Ziffern herumgequält
Doch die Sommersprossen auf ihrer Nase
Die hätte ich gerne gezählt

Ich sah auch ihren Mund und hoffte
Auf ihr Lächeln an kommenden Tagen
Und nahm mir vor, sie nach diesem und jenem
Und nach ihrem Namen zu fragen

Es ergab sich schon am nächsten Tag
Dass ich einen Grund sie zu sprechen fand
Nur gab sie mir Antwort, in einer Sprache
Von der ich kein Wort verstand
Verstanden habe ich nur ihr Lächeln
Als ich so ganz brav neben ihr lief
Und hinter dem Lächlen sah ich ihre Zähne
Schneeweiß und ein kleinwenig schief

Ihren Namen las ich auf dem Schildchen am Koffer
Den ich für sie zum Bahnhof trug
Dann stand ich alleine da, sah sie noch winken
Aus dem fahrenden Zug