Reinhard Mey
Jahreszeiten
Ich mag die beiden gern am Dahlienbeet, in ihrem Garten
Im herbstlichen Nachmittagslicht die Blumen hegen seh'n
Wie sie bedächtig arbeitend die Dämmerung erwarten
Die Schürze überm Arm, wenn's kühl wird, in die Stube geh'n
Bald dringt ein Lichtschein durch die Zweige, die im Herbstwind schwanken
So friedlich, wie Erntefeuer, in der Nacht hinaus
Ich ahn' sie beieinander sitzen, seh' sie in Gedanken
Die beiden alten Leute in dem stillen Haus
Die Jahreszeiten eines Lebens haben die zwei vorübergehen seh'n
Die Zeit zu säen, die Zeit zu ernten
Ohne die Zeit, sich auch nur einmal umzudreh'n

Die Zeit hat ihre Schritte nun langsamer werden lassen
Und ihre Gesten zögernd, beinah' unsicher und schwach
Wenn sie einander stützen und helfend unterfassen
Ihr Gang mag müd' geworden sein, ihr Blick ist doch hellwach
Und immer voller Zärtlichkeit für einander geblieben
Und mehr denn je ein Weg, einander wortlos zu versteh'n
Ich glaub', die Zeit lässt Menschen, die einander so lang' lieben
So ähnlich fühlen, dass sie einander ähnlich seh'n
Die Jahreszeiten eines Lebens haben die beiden zusammen erlebt
So haben sich längst die Schicksalsfäden
Der beiden zu einem einzigen Band verwebt

Es sind die Sorgen und die Freuden vergangener Jahre
Geschichten, die man in ihren Gesichtern lesen kann
Manch' Kummer und manch' Ärger sorgten für die weißen Haare
Und ganz gewiss hatten wir Kinder unsren Teil daran
Die Kinder sind nun auch schon lange aus dem Haus gegangen
Haben mit ihren Kindern alle Hände voll zu tun
Die beiden steh'n allein, so hat es einmal angefangen
Hier hat ihr Leben sich erfüllt, hier schließt der Kreis sich nun
Die Jahreszeiten eines Lebens sah'n manchen Wunsch in Erfüllung geh'n
Nun bleibt der sehnlichste wohl von allen:
Die Zeit des Rauhreifs miteinander noch zu seh'n