Reinhard Mey
Kleines Mädchen
Das kleine Mädchen auf meinem Schoß
Plaudert und lacht und erzählt atemlos
Singt und hält inne und spielt mit mir
Mit einem Finger auf dem Klavier
Und Gedanken und Bilder, Erinn‘rungen zieh‘n
Durch meinen Sinn mit den holprigen Melodien
Mir doch grad erst geschenkt, gestern kaum erst ein Jahr
Und heut' Spangen und Schleifen und Bänder im Haar
Kleines Mädchen auf meinem Schoß
Schmieg dich an, wieg dich, ich lass‘ dich nicht los
Die Hand, die da über die Tasten spaziert
Erlaubt mir heut' noch, dass die meine sie führt
Heute noch ist der Platz auf meinen Knien
Ein guter Hort, vor allem Kummer zu flieh‘n
Heute seh‘ ich dich noch fragend zu mir aufschau‘n
Doch voll Ungeduld schon und voller Selbstvertrau‘n
Beginnst du dich Schritt für Schritt zu befrei‘n
Und den nächsten, den gehst du dann schon ganz allein
Bald, kleines Mädchen auf meinem Schoß
Bald, kleines Mädchen, so bald bist du groß
Die Jahre vergeh‘n, unsre Zeit fliegt dahin
Wir dreh‘n uns im Kreise, und das ist der Sinn:
Alles muss enden und Neues beginnt
Du bist der Morgen und frei wie der Wind
Kinder sind uns ja nur für kurze Zeit gelieh‘n
Und sie sind ja gekommen, um weiterzuzieh‘n
Doch sie gehen zu lassen, ist die schwerste Lektion
Geduld, kleines Mädchen, ich lern‘ sie ja schon
Kleines Mädchen auf meinem Schoß
Spring in den Reigen, ich lasse dich los