Reinhard Mey
Ich liebe das Ende der Saison
Die Tage werden kürzer und die Schatten werden länger
Vor der Boutique friert im Kübel ein vergess'ner kleiner Baum
Im Kurhaussaal rücken sie die Tische enger
Und heizen manchmal schon den vord'ren Raum
Der heißumkämpfte Tisch, den nur die Halbgötter bekamen
Ist nicht mehr heißumkämpft und plötzlich frei
Und dein Gesicht hat endlich für den Kellner einen Namen
Du bist auf einmal wichtig und nicht nur Tisch Nummer drei!
Die Speisekarte wird mit jedem Tag ein bißchen kleiner
Dafür mit jedem Tag ein bißchen größer die Portion:
Es muß jetzt alles weg und wenn du es nicht ißt, ißt's keiner –
Ich liebe das Ende der Saison!
An den verwaisten Fahnenmasten klopfen lose Leinen
Und irgendwo dort drüben schlägt ein Gartentor im Wind
Wie all diese Geräusche deutlicher und lauter scheinen
Wenn erst die lauten Stimmen der Saison verklungen sind!
Wenn sich jetzt zwei begegnen, ist das fast eine Verschwörung
Und Wildfremde erzähl'n dir ihren ganzen Lebenslauf
Im Flüsterton, denn Sprechen wäre jetzt schon eine Störung
Jetzt hat nur noch die Post und morgens der Schuhladen auf
Einen Sommer lang bist du um ein Paar herumgestrichen:
Unverschämt teuer, doch gefallen würde es dir schon
Seit gestern abend ist das alte Preisschild durchgestrichen:
Ich liebe das Ende der Saison!
In der Strandgalerie hängt nur ein Bild, drauf steht: "Geschlossen"
Der Kiosk und das Eiscafé machen nach und nach dicht
In Spinnweben über den verwitterten Fenstersprossen
Zittern glitzernde Tautropfen im späten Sonnenlicht
Wenn jetzt die Sonne scheint, dann ist das nicht mehr selbstverständlich
Und du nimmst jeden Strahl einzeln und dankbar hin
Nichts ist mehr so wie's war, und du kannst spür'n: Alles ist endlich
Auch wenn du's nicht verstehst, ahnst du doch: Es hat seinen Sinn
Du brauchst nicht mehr über die Gehsteigzuparker zu meckern:
Die Autoschickimickis sind schon längst auf und davon
Mit ihr'n Pelzdamen, deren Hunde die Wege vollkleckern –
Ich liebe das Ende der Saison
Vorm Dorfkrug stehen ratlos ein paar Kästen leere Flaschen
Im Schaukasten gilbt ein Menü aus längst vergang'ner Zeit
Der Regen hat die Kreide von den Schrifttafeln gewaschen
Wer jetzt noch hierher kommt, der weiß ja sowieso Bescheid
Wer jetzt noch hierher kommt, der hat gelernt, sich zu bescheiden
Und wenn er wieder geht, wird er ein Stückchen weiser sein:
Du brauchst im Leben wirklich nur, um keine Not zu leiden
Einen Freund, ein Stück Brot, ein Töpfchen Schmalz und ein Glas Wein!
Und all das gibt es hier noch allemal an allen Tagen
Und wenn du klug bist, werden Leib und Seele satt davon
"Und übrigens, die Runde geht auf mich!" hör' ich mich sagen
Ich liebe das Ende der Saison!
Und denk' dabei, ich stünde gern in fernen Tagen
Am Fenster einer kleinen, langsam schließenden Pension
Und sähe auf die Wege meines Lebens und könnt' sagen:
Ich liebe das Ende der Saison!