Reinhard Mey
Das wahre Leben
Warmherzig, großzügig und liebevoll, stets die helfende Hand
Gütig, klug und aufgeschlossen, aufopfernd und tolerant
Stets ein offnes Ohr für Jedermann und -Frau und jederzeit
Immer Vorbild, immer selbstlos in stiller Bescheidenheit!
Zu gern wüsst ich, wer dies Prachtexemplar eines Menschen ist
Nur leider hat er sich grad' durch friedliches Ableben verpisst
Und dies ist kein Bewerbungsschreiben für den Job des Ersatzheil‘gen der Stadt
Ich studier' nur grad' die Traueranzeigen im Sonntagsblatt
Das Erfund‘ne und das Wahre
Von der Wiege bis zur Bahre
Das eröffnet sich beredt
Dem, der sie zu lesen versteht
Auf den Punkt gebracht, gebündelt, im Telegrammstil kurz und knapp:
Das wahre Leben, das wahre Leben spielt sich doch in den Todes-anzeigen ab!
Während ich darüber nachdenk', entdeck' ich das Phänomen
Dass von allen Menschen immer nur die guten Menschen geh'n
Nur die edlen, nur die klugen, nur die mutigen, wie jeder weiss
Nur die Vorbilder entschlafen viel zu früh und sanft und leis
Nur die Guten treten ab und das heißt unabänderlich:
Es bleiben nur die Ekel übrig, Leute so wie du und ich
Nur die Schweine leben ewig, aber das erklärt konkret
Warum hierzulande alles langsam den Bach runter geht!
Da steh'n Lügen und Intrigen
Dass die Sargbretter sich biegen
Der Tote sich im Grab umdreht
Für den, der zu lesen versteht
Auf den Punkt gebracht, gebündelt, im Telegrammstil kurz und knapp:
Das wahre Leben, das wahre Leben spielt sich doch in den Todes-anzeigen ab!
Oder hat man je gelesen: "Der war längst fällig!" oder gar
Dass der teure Heimgegangene ein schlimmer Stinkefinger war?
"Widerwärtig bis zum Ende, Zwietracht war sein Lebenswerk
Ein Geschwür, ein Spielverderber, ein giftiger, böser Zwerg
Ewig hat der Sack genörgelt, hat uns jeden Spaß verpatzt
Endlich und viel zu spät ist die alte Ratte abgekratzt
Endlich hat der Sensemann der Zecke den Rüssel gekappt
Hat ihm die Lampe ausgeschossen und die Hufe hochgeklappt!"
Das Gereimte und Geschleimte
Niederträchtig Abgefeimte
Schön verpackt in Pietät
Für den der zu lesen versteht
Auf den Punkt gebracht, gebündelt, im Telegrammstil kurz und knapp:
Das wahre Leben, das wahre Leben spielt sich doch in den Todes-anzeigen ab!
So leg ich vorsorglich fest, was eines Tags in meiner steht
Dass mein letztes Inserat nicht auch noch in die Hose geht
Ich will kein "teurer Verblich‘ner" und kein "Heimgeruf‘ner" sein
Ich will nicht noch ‘nen Verriss, ich will keine Lubhudelei‘n
Nicht, dass noch Mike Krüger Candle-in-the-Wind-mäßig zum Schluss
"Mein Gott Walter" für den traurigen Anlass umdichten muss!
Ich mach‘s kurz und ich mach‘s schmerzlos, ich mach‘s preiswert und ich grüß‘
Alle die‘s am Sonntag lesen mit zwei Worten: und tschüs!