Reinhard Mey
Vaters Mantel
Er sitzt auf dem Küchentisch im Schneidersitz
In der kleinen Küche, verstreut um ihn liegen
Kreide, Stoffbahnen, Schnipsel und Garn
Er summt vor sich hin und seine Hände fliegen
Sie führen Nadel und Faden geschickt
Pfeilschnell und wohlbedacht durch das Gewebe
Hebt die Hand, hält inne, hält Nadel und Garn
Für einen prüfenden Blick in der Schwebe
Die Kinder kennen das Bild nur zu gut
Das Zuschneiden, Auftrennen, Nähen und Messen
Sie woll'n, dass der Tisch wieder ihnen gehört
Für die kurze Zeit vor dem Abendessen
Und sie fragen die Mutter, was näht er denn grad'
Und die Mutter flüstert, fast als wär's ein Verrat:
Vaters Mantel
Er näht ihn aus schweren kostbaren Tuch
Er näht ihn für immer, er näht ihn mit Liebe
Das hat er gelernt, als er vierzehn war
Und noch immer spürt er die Rohrstockhiebe
Wenn der Meister in blinden Zorn geriet
Weil ein Muster sich nicht in ein Muster fügte
Unsichtbar, nur einen Fadenbreit
Und das kleinste hen mit Schlägen rügte
Vom ersten Tageslicht bis in die Nacht
Und keinen Feiertag gab's bei dem Schinder
Zu fünft waren sie und sie nähten für ihn
Zu fünft und sie waren noch allesamt Kinder
Die Nähstube kalt und der Lohn jämmerlich
Aber diesen Mantel, den näht er für sich!
Vaters Mantel
Zu Haus acht Geschwister in karger Zeit
Er bringt sie durch mit dem Geschick seiner Hände
Näht, bügelt, wäscht für sie und er füllt
Ihre Teller, wenn's eng wird zum Monatsende
Er heftet den Kragen an das Revers
Um das Fischgrätmuster genau anzusetzen
Näht das seidige Futter ein und er sieht
Sich heimkehren aus dem Krieg in einem Fetzen
Sieht sich im gottverlassenen Unterstand
Noch für all die andern armen Teufel nähen
Fußlappen aus Fahnen und Uniform
Auf denen sie dann in Gefangenschaft gehen
Den Krümel Tabak teilt er brüderlich
Aber diesen Mantel, den näht er für sich!
Vaters Mantel
Er hat ihn betrachtet mit stillem Stolz:
Die Stulpen am Ärmel, der aufrechte Kragen
Die Knöpfe, die Patten, die schnurgrade Naht
Im Dorf hat noch keiner so einen getragen
Er näht für die Frau und die Kinder jetzt
Hosen und Rock, macht Neues aus alten Dingen
Macht Mützen und näht Kleider für das Dorf
Aus den Stoffresten, die ihm die Leute bringen
Sie kommen gern auf einen kleinen Schwatz
Herein, wenn sie das fertige Stück abholen
Sie loben die Arbeit, zahlen den Lohn
Und durch die Küchentür blicken sie verstohlen
Auf den Flur: Da hängt er fein säuberlich
Auf dem Bügel, ein Meisterstück Stich für Stich!
Vaters Mantel
Ich sehe ihn vor mir im Schneidersitz
Um ihn verstreut Schnipsel und Stoffreste
Das Maßband ausgerollt um seinen Hals
Bunte Fäden wie Orden auf seiner Weste
Er hat mir den Mantel geschenkt, als er
Ihm groß geworden war in späten Jahren
Er hat mich geadelt mit dem Geschenk
Und dem Vertrau'n, ihn in Ehren zu bewahren
Das gute Tuch, neu wie am ersten Tag
Die Stulpen, die Ärmel, der aufrechte Kragen!
Ich trag ihn und trag die Erinnerung
An den Schneider an ganz besonderen Tagen
Mit Freude, aufrecht und feierlich
Ich bin mir bewusst, heut trage ich
Vaters Mantel