Reinhard Mey
Lieber kleiner Silvestertag
Lieber kleiner Silvestertag, bist so mutig aufgewacht
Hast dich für deinen Abschied schon festlich zurechtgemacht
Von Narren schon seit Tagen vor deiner Zeit herbeigeknallt
Musst du heut glitzern und lustig sein und sei es mit Gewalt
Mit so viel Wünschen und Sehnsüchten überfrachtet
So viele Glückshypotheken hängen dir an
Nur der arme alte Karpfеn, den man heut schlachtet
In sеiner Badewanne ist noch übler dran
Die lausigste Kaschemme und der feinste Nobelschuppen hat
Die Tür'n verrammelt bis zur Nacht in dieser Geisterstadt
Nur ein verfrühter Böller hallt durch die Straßenschlucht dann und wann
Es gibt ja immer einen, der 's Wasser nicht halten kann
Doch Punkt acht kommen sie und sitzen wie die Deppen
Mit ihr'n Papierhütchen am Tisch wie angeschnallt
Vor endlosen Menus, die sich träg dahinschleppen
Und bis der Teller auf den Tisch kommt, sind sie alt
In Häusern und in Stuben dehnt qualvoll der Frohsinn sich dahin
Gebiert die guten Vorsätze heut für den Neubeginn
Luftschlangen und Eierlikör, der letzte Streit im alten Jahr
Der gute Vorsatz schon vergeigt vorm 1. Januar
So sitzen sie, so warten sie sprachlos zusammen
Vorm Flachbildschirm so wie in jedem Jahr und schaun
Den immer gleichen Zombies zu in den Unprogrammen
Starr'n auf die Uhr und den erlösenden Countdown:
Beim Glockenschlag
Um Mitternacht
Kommt, kleiner Tag
Die letzte Schlacht
Dann probt die trunkene Nation johlend ihren Weltuntergang
Schmerzlich entbehrter Monatslohn verpufft, Dreck und Gestank
Blaulicht mischt sich ins Feuerwerk und Martinshorn in die Musik
Auf den Fluren im Krankenhaus: Szenen wie im Krieg
Kleiner Silvestertag, grad noch behängt mit Träumen
Hast ausgedient, drei mal verleugnet liegst du bald
Bei Flaschen, Böllern und entschmückten Weihnachtsbäumen Mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt
Armer kleiner Silvestertag, bist so mutig aufgewacht
Hattest dich für diese Nacht so schön zurechtgemacht