Reinhard Mey
Heimweh nach Berlin
Das Meer umspült die Bucht, der Sand so weiß und fein
Ein sanfter Südwind, nirgends kann es schöner sein!
Über glitzernden Wellen seh' ich goldne Fische springen
Hör Palmenwedel rascheln und Meerjungfrau'n singen
Noch eine Feige, eine Dattel, und ich gieß
Mir noch ein Gläschen ein, ich seh' ins Paradies
Und den Kranich am blauen Himmel nordwärts zieh'n
Und da ist es plötzlich wiedеr, dieses alte Hеimweh, Heimweh nach Berlin
Heimweh nach 'ner geballten Ladung schlechte Laune
'nem Slalom durch Hundehaufen, glänzend, große, braune
Nach Friedrichshain und seinen idyllischen Party-Winkeln
Wo mir die Partygänger nachts gern in den Hausflur pinkeln
Wo der Kampfradler den Bürgersteig als Rennstrecke nutzt
Und man mir gegen meinen Willen die Windschutzscheibe putzt
Im Bürgeramt von Mitte stehen ohne Termin – und eine Wartemarke ziehn –
Ich habe Heimweh nach Berlin
Schöne Lagunenstadt, Bella Venezia
Der Gondoliere singt, ich schaukel in der Gondola
Tauben auf dem Markusplatz, Karneval und Konfetti
Canal Grande, Seufzerbrücke, Commissario Brunetti
Doch die Ratten der Lüfte und die Kanalisation
Wecken in mir eine wohl vertraute Assoziation
Und mit den Abwassergerüchen, die vorüberziehn
Fliegt es mich glatt wieder an, dieses alte Heimweh, Heimweh nach Berlin
Berliner Luft aus trocknen Gullis an Sommertagen
Wenn Männer beige Socken in Sandalen tragen
Wenn dicke Mädchen sich in enge Tops und Hot Pants zwängen Und sich miesepetrig in versiffte S-Bahnen drängen
Nach dem Busfahrer, der mir genau vorm letzten Schritt
Die Türe vor der Nase zuknallt und auf's Gaspedal tritt
Nach Touristen, die Rollkoffer über's Kleinpflaster ziehn
Ich habe Heimweh nach Berlin
Da ist die schöne Blaue Donau und dieser göttliche Schmäh
Da ist ein Rainhard noch was wert, „Küss die Hand, Herr Chansonnier!“
Da ist der Bräunerhof, die Sisi und das Burgtheater
Da ist der Heurige, da ist der Heurigenkater
Ein Hauch von Kaiserschmarrn und Blunzengröstl überall
Und eine Mischung von Zentralfriedhof und Opernball
Ich sag' es grad heraus, die schönste Stadt der Welt ist Wien
Aber geh, verzeih, ich habe trotzdem Heimweh, ich habe grässliches Heimweh, ich habe Heimweh nach Berlin!
Nach Däwes' Späti und Cems Tante-Emma-Laden
Nach einem Hauch von Curry und nach Dönerschwaden
Nach 'nem Gratis-Kaffee Togo mit 'nem Lächeln an der Tanke
Nach dem Punk, dem du die Tür aufhältst, und der sagt danke
Nach dem von Bürgeramt-Mitte und der Sachbearbeiterin
Die fünf vor Feierabend sagt: „Na, junger Mann, komm'se ma noch rin!“
Dem Radler, der mich auf dem Radweg nicht „du Arsch“ anbrüllt
Der Politesse, die leis lächelnd mein Knöllchen zerknüllt
Dem Busfahrer, der mich rennen sieht und freundlich lacht
Nochmal anhält und extra für mich die Tür aufmacht
Solang ich denken kann, will ich woandershin zieh'n
Nur ich hab zu viel Heimweh, ich habe schreckliches Heimweh
Ich habe immer Heimweh, ich habe Heimweh nach Berlin!