Julia Engelmann
Melancholie
Wenn wir zusammen sind,
sehe ich in deinem Blick
immer nur, was vor uns liegt,
niemals das, was niemals ist.

Weißt du, was ich meine?
Nicht für 'ne winzige Weile
habe ich jemals bezweifelt,
dass wir all das erleben,
wovon wir jetzt so reden.
Als könnte es für uns
gar nichts außer Zukunft geben,
als könnten wir uns
niemals nicht mehr bewegen.

Es macht mich gerade so heftig traurig,
dass alles, was beginnt, auch enden muss
und dass es vielleicht nur so scheint,
als sei der Himmel für uns grenzenlos.

Ich weiß, dass diese Haltung
nicht im Ansatz exklusiv ist.
Doch eine Sache auf der Welt,
die ir etwas zu fiktiv ist,
ist die Vorstellung vom Ende
aller erdenklichen Dinge.
Ich stell mir lieber vor,
wie sie beginnen.
Und ich hasse es, dass Zeit vergeht.
Was soll der Mist, ganz ehrlich?!
Wer hat sich das denn ausgedacht?
Das wär doch locker entbehrlich!
Und sag mir nicht, dass Endlichkeit alles,
was wir lieben, kostbar macht.
Auch wenn das stimmt - die Wahrheit ist,
dass sie vieles schwer verkraftbar macht.

Nur, weil wir gerade jung sind,
heißt das nicht, dass wir es bleiben,
aber wir können das nicht fühlen,
ohne Erfahrung nie begreifen.

Meine Mutter sagt, sie weiß nicht,
wohin all die Tage gehen,
sie ist schon über fünfzig,
dabei war sie Gerde erst zehn.
Meine Oma sagt, sie weiß nicht,
wo all die Jahre hin sind,
alles fühlt sich an wie immer,
eben war sie noch ein Kind.
Es war gerade erst Winter,
und jetzt ist es schon August,
und ihre Kinder haben Kinder.
Auch ich frage mich täglich,
wohin alle Stunden gehen.
Weiß das irgendjemand wirklich?
Das ist niemals zu verstehen.
Die Zeit macht mich verrückt,
sie ist ein sehr suspektes Ding,
alles numerisch zu messen,
das ergibt so wenig Sinn.
Wir klammern uns an Zahlen
wie an Bojen in der Flut,
doch in tobendem Gewässer
ist kein Anker Halt genug.

Zu oft will ich noch behalten,
was doch eh vergehen wird.
Zu oft bleibe ich beim Alten,
während Neues passiert.
Wir merken das nicht immer,
aber die Dinge ändern sich.
Ich esse richtig gern Oliven,
früher mochte ich sie nicht.
Mein Hund war mal ein Welpe,
und jetzt ist er keiner mehr.
Hier lag bis eben noch ein Kern.
Hey, wo kommt der Kirschbaum her?
Ich weiß es lohnt sich nicht,
an der Vergangenheit zu hängen.
Aber manchmal ist es wichtig,
liebevoll an sie zu denken
und ihr so zurückzuschenken,
was sie uns immer wieder gibt.

Ich mag alles das, was war,
manchmal finde ich unfassbar,
was ich schon erlebt,
was ich schon geschafft hab.
Das lieht alles unantastbar
im Tresor meines Frachters -
der schippert in diesem Moment
auf einem Meer, das keiner kennt,
dahin, wo nie zuvor ein Schatz lag.

Mein Vater sagt, er weiß nicht,
wohin die Tage gehen.
Manchmal betrachtet er die Sterne,
doch er kann es nie verstehen.
Mein Opa sagt, er weiß nicht,
wo all die Jahre hin sind.
Alles fühlt sich an wie immer.
Eben war er noch ein Kind,
spielte Fangen mit seinen Geschwistern,
dann ein Schlag mit seiner Wimper,
und seine Kinder haben Kinder.

Weißt du, was bizarr ist?
Ich sag das hier jetzt gerade,
und ohne Warten, ohne Fragen
wird aus diesem Moment bald
ein ganzer, neuer Tag.
Dann ist der Ort, an dem ich jetzt bin,
automatisch nicht mehr da.

Zu oft muss ich mich ertappen,
wie ich die Sachen betrachte,
die ich niemals wirklich machte,
die ich niemals wirklich hatte,
und dann find eich das schade.

Doch wenn wir zusammen sind,
sehe ich in deinem Blick
immer nur, was vor uns liegt,
niemals das, was niemals ist.