Julia Engelmann
Was Ich Will
In einer Vorstadt zieht durch die Straßen ein stiller Triumphzug reißender Nacht. Malt alles schwarz. Nur aus einer Fassade blitzen wummerndes Licht und ein gleißender Bass.
Die Dunkelheit wundert sich, stutzt, hält an. Spuken denn heute Gespenster im Städtchen? Als sie darauf wie gewohnt ihren Gang geht, lugt aus dem leuchtenden Fenster ein Mädchen.
Das Mädchen betritt, harter Schnitt jetzt den Garten und träumt noch, sie hätte ein eigenes Gedicht.
Sie treuer Hörer, sie werden es ahnen, wir sind mittendrin, denn das Mädchen bin ich.

Ich zähle:
Zweifel sind Findungsprozesse. 3
Stillstand ist Anlauf nur besser. 2
Ist das Gedicht jetzt zu Ende?
Nein! Jetzt kommt der Teil, wo ich renne. 1

Ich renn leise und barfuß bis zur Garage. Zu meinem bis dato geheimen Projekt. Ich bin nicht bereit darauf länger zu warten.
Der beste Moment für den Testlauf ist jetzt.
Hier zwischen Schweiß, Schleifstein und Staub, sprühenden Funken, verdunkelten Türen hab ich es jahrelang heimlich gebaut.
Das Prototyp-Paar meiner eigenen Flügel.
Die Sage besagt, wer vom Flugplatz am Stadtrand den Horizont und eine Schlucht überfliegt, der kommt in einer Art anderem Land an, das hinter den Grenzen der Wirklichkeit liegt.
Dort wohnen Menschen, so die Legende, vollkommen frei und so wie sie sind. Von uns überquerte noch keine den Canyon, doch seit ich davon weiß, will ich dringend da hin.
Pappe, Metall, Stoff stopf ich in Rücksack. Tausendmal hab ich den Ablauf geprobt. Simultan steigen mein Puls und der Druck an.
Ich sag mir, "ich schaff das" und schon get es los.
Ich sattel den Drahtesel, trete ins Pedal. Wer reitet so späht noch durch Nacht und die Straßen? Ich! Mach diesen Weg aus Gedanken real und erreiche den Flugplatz mit wehenden Haaren.
Werf außer Atem mein Rad in den Rasen. Grün, grau, blau sind die einzigen Farben. Die Luft ist hier draußen so kalt wie sie klar ist.
Ich bin hier draußen so frei wie ich wahr bin.

Ich zähle:
Zweifel sind Findungsprozesse. 3.
Stillstand ist Anlauf nur besser. 2.
Ist das Gedicht jetzt zu Ende?
Nein! Jetzt kommt der Teil, wo ich renne. 1
Ich renne mit ausgebreiteten Armen die Startbahn entlang.
Doch ich halte vor dem Starten. Ich denke an Angst und ich denk an Gefahren. In meinem Kopf überschlagen sich Fragen.
Was wenn die Dinge, die ich suche, weil ich glaube, sie zu brauchen, gar nicht sind, was ich will?
Warum sonst würde ich versuchen bis zum Abheben zu laufen, aber wenn es soweit ist, halte ich still?
Was wenn die Wege, die ich gehe und die Sachen, die ich mache, gar nicht sind, wie ich bin?
Warum sonst habe ich täglich diese Angst, etwas zu verpassen und ich frag mich immer wieder nach dem Sinn?
Was wenn die Grenze, die ich sehe und in denen ich mich bewege, gar nicht wirklich existieren? Denn wie sonst ist zu begreifen, dass wenn ich sie überschreite, außer dass ich was erlebe, nichts passiert.
Und was, wenn es gar nicht meine Pflicht ist, so wie andere es erwarten, zu entscheiden und zu sein.
Warum sonst ist keiner glücklich, wenn ich ohne ihn zu fragen meinen Lebenstraum geändert habe zu seinem?

Ich schreie in die Nacht. All die Träume von mir, die ich niemals lebe. Doch da stehen nur die Bäume, die wie Leute nicht verstehen.
Das Problem ist, ich will alles auf einmal und das ist nicht so einfach. Sagt mal, hört mich denn keiner? Ich schreie in die Nacht.
Sagt mal, merkt ihr nicht, wie alles mich zerreißt und was bleibt ist am Ende nur die Sehnsucht nach mehr Zeit.
Vielleicht will ich alles auf einmal und das ist nicht so einfach.
Sagt mal, hört mich denn keiner?
Ich blicke auf die andere Seite des Canyon.
Wie schön muss es sein, wenn man denken auch lebt.
Wie kamen die Menschen dort hin über die Grenze und ob einer von denen meine Lage versteht?
Warum fliege ich besser im Kopf und ob Träume und Handeln ein Widerspruch sind? Die Antwort liegt drüben. Das ist paradox.
Kann mir einer erzählen, ob ich Ikarus bin?
Keiner, der hilft und ich weiß nicht, was stimmt. Doch ich tu das für mich und ich gebe nicht auf. Ich nehme mir Zeit bis der Sprung mir gelingt. Auch wenn das heißt, dass ich lebenslang lauf.

Ich zähle:
Zweifel sind Findungsprozesse. 3.
Stillstand ist Anlauf nur besser. 2.
Ist das Gedicht jetzt zu Ende?
Nein! Jetzt kommt der Teil, wo ich renne. 1
Hoch über mir erreicht just eine Möwe in nächtlichen Böen beträchtliche Höhen. Fliegt immer weiter und an mir vorbei.
Sieht mich von weitem und dann auf die Zeit, fragt sich, was es dort unten wohl macht. Ein Mädchen am Flugplatz alleine in der Nacht. Wehendes Haar und eine Jeansjacke an. Die Arme wie Flügel zur Seite geklappt.

Bevor diese Möwe gen Süden sich lenkt, hört niemand wie sie noch über mich denkt. Sie scheint immer noch zu üben.
Wenn ich sie wäre, würde ich fliegen.

Ich zähle:
Zweifel sind Findungsprozesse. 3.
Stillstand ist Anlauf nur besser. 2.
Ist das Gedicht jetzt zu Ende? Nein! Jetzt kommt der Teil, wo ich renne. 1