Julia Engelmann
Dieses Alter
Wie gern wärst du ein Kranich,
ein Vagabund mit Flügeln,
könntest ohne feste Zügel
erhaben über allem fliegen,
um endlich das zu kriegen,
was diese Leere in dir füllt,
bevor ein Fremder sie enthüllt.
Wie gern wärst du ein Weltenbummler
zwischen Afrika und Rostock,
zwischen Risiko und Hoffnung,
auf Wolkenaugenhöhe oben,
nur ab und zu mal auf dem Boden,
um von jedem Ort zu kosten.

Vielleicht ist das dieses Alter,
da ist wohl keiner jemals greifbar,
weil man nicht mal so viel Halt hat
wie der Schatten seines Weinglases.

Du nimmst dir ein Semester frei,
kommst mal raus, kommt mal herum,
trampst bis nach Indien,
bist bei dir, auf der Suche.
Du geht im Hatha-Yoga-Ashram
deiner Sache auf den Grund,
zumindest mit der Nase auf die Matte -
deine Haare sind jetzt bunt.
Du machst Harfenstraßenmusik
in Lyon und Lissabon.
Suchst du wirklich nach dir selbst
oder rennst du vor dir davon?
Du sagst, du willst dir nichts beweisen,
nur auf den Machu Picchu steigen,
und au willst auch gar nichts finden,
du willst nur gerne weiterreisen,
nirgendwo zu lange bleiben,
denn sonst dringt zu viel nach innen.

du kopierst fast eins zu eins
alles aus Into the Wild,
wanderst barfuß querfeldein,
tauchst Freiheit gegen Halt.
Es ist doch so, wie Christoper
dann ganz am Ende schreibt:
"Glück ist nur echt, wenn man es teilt."
Alles wird echt, weil man es teilt.
Aber du bindest dich an keinen
und bleibst lieber alleine.

Nichts ist dir gut genug, nicht mal viel,
ständig hast du das Gefühl,
in die sagt eine Stimme:
"Hör nicht auf, neu zu beginnen.
Du musst höher, weiter springen,
denn noch bist du nicht am Ziel!"
Und ich seh dir dabei zu,
schon seit Ewigkeiten,
und es wäre so ein Leichtes,
einfach streng zu urteilen.
Doch ich bin genau wie du.
Wie gern wär ich ein Kranich,
ein Vagabund mit Flügeln,
erhaben über allem fliegend,
um endlich das zu kriegen,
was diese Leere in mir füllt,
bevor ein Fremder sie enthüllt.

Vielleicht ist das dieses Alter,
vielleicht wachsen wir da raus,
vielleicht hört das alles mit der Zeit
von alleine auf.

Denn wir sind zu hart miteinander
und zu hart zu uns selbst,
aber das ändert sich nicht
am anderen Ende der Welt.
Wir suchen an den falschen Orten
nach den falschen Dingen,
und dann sind wir ernüchtert,
wenn wir wieder nichts finden.

Und kaum sind wir irgendwo,
zieht es uns magnetisch da weg.
Wir sind sprunghaft wie ein Floh
und unverbindlich wie das Wetter,
wir verschwinden immer besser
als die anderen um uns rum.
Und wir sagen niemals Tschüss,
wir schleichen weg, wir bleiben stumm.
Wir sind Eisberge,
nur ein Siebtel von uns ist sichtbar,
der Rest bleibt backstage im Meer,
versteckt, verborgen, aber sicher.
Wir sind rastlose Nomaden
mit kraftlos wackelnden Nomaden
auf der Suche nach dem Hafen,
der uns ein Zuhause ist.
Wir sind Angsthasen,
die sich nicht in den festen Stand wagen,
wir tragen einheitliche Pappmasken
mit genau den gleichen Pappnasen.

Wir wollen Halt, aber nichts Festes,
damit auch ja keiner verletzt ist,
wir machen alles selbst kaputt,
bevor's kaputtgehen kann.
Und nichts ist gut genug,
wir wollen immer das Beste,
und wir machen lieber Schluss,
bevor's zu Bruch gehen kann.

Niemand soll bemerken,
dass uns etwas was bedeutet,
dabei sind wir es selbst,
die wir am Ende damit täuschen.

Vielleicht ist das dieses Alter,
vielleicht wachsen wir da rein,
irgendwann entspannt mit uns,
der Welt und anderen zu sein.