Homer
Odyssee - Kapitel 28
375    Kirke bemerkte mich jetzt, wie ich dasaß, ohne die Speise
          Mit den Händen zu rühren, versunken in tiefe Schwermut;
          Und sie nahte sich mir, und sprach die geflügelten Worte:

              Warum sitzest du so wie ein Stummer am Tische,                            Odysseus,
          Und zerquälst dein Herz, und rührest nicht Speise noch Trank           an?

380   Ist dir noch bange vor Hinterlist? Du mußt dich nicht                           fürchten!
          Denn ich habe dir's ja mit hohem Eide geschworen!

            Also sprach sie; und ich antwortete wieder, und sagte:
          Kirke, welcher Mann, dem Recht und Billigkeit obliegt,
          Hätte das Herz, sich eher mit Trank und Speise zu laben,

385   Eh' er die Freunde gerettet, und selbst mit Augen gesehen?
          Darum, wenn du aus Freundschaft zum Essen und Trinken                 mich nötigst;
          Gib sie frei, und zeige sie mir, die lieben Gefährten!

              Also sprach ich. Sie ging, in der Hand die magische Rute,
          Aus dem Gemach, und öffnete schnell die Türe des Kofens,

390   Und trieb jene heraus, in Gestalt neunjähriger Eber.
          Alle stellten sich jetzt vor die mächtige Kirke, und diese
          Ging umher, und bestrich jedweden mit heilendem Safte.
          Siehe da sanken herab von den Gliedern die scheußlichen                 Borsten
          Jenes vergifteten Tranks, den ihnen die Zauberin eingab.
395   Männer wurden sie schnell, und jüngere Männer, denn                       vormals,
          Auch weit schönerer Bildung und weit erhabneres Wuchses.
          Und sie erkannten mich gleich, und gaben mir alle die Hände;
          Alle huben an, vor Freude zu weinen, daß ringsum
          Laut die Wohnung erscholl. Es jammerte selber die Göttin.
400   Und sie nahte sich mir, die hehre Göttin, und sagte:
              Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus,
          Gehe nun hin zu dem rüstigen Schiff' am Strande des Meeres;
          Zieht vor allen Dingen das Schiff ans trockne Gestade,
          Und verwahrt in den Höhlen die Güter und alle Geräte.

405   Dann komm eilig zurück, und bringe die lieben Gefährten.

              Also sprach sie, und zwang mein edles Herz zum                             Gehorsam.
          Eilend ging ich zum rüstigen Schiff am Strande des Meeres,
          Und fand dort bei dem rüstigen Schiffe die lieben Gefährten,
          Welche trostlos klagten, und häufige Tränen vergossen.

410   Wie wenn im Meierhofe die Kälber den Kühen der Herde,
          Welche satt von der Weide zum nächtlichen Stalle                             zurückgehn,
          Alle mit freudigen Sprüngen entgegen eilen; es halten
          Keine Gehege sie mehr, sie umhüpfen mit lautem Geblöke
          Ihre Mutter: so flogen die Freunde, sobald sie mich sahen,
415    Alle weinend heran; und ihnen war also zu Mute,
          Als gelangten sie heim in Ithakas rauhe Gefilde
          Und in die Vaterstadt, wo jeder geboren und groß ward.
          Und sie jammerten laut mit diesen geflügelten Worten:

              Göttlicher Mann, wir freun uns so herzlich deiner                             Zurückkunft,

420   Als gelangten wir jetzo in Ithakas heimische Fluren!
          Aber wohlan! erzähl' uns der übrigen Freunde Verderben!
             Also riefen sie aus; und ich antwortete freundlich:
          Laßt uns vor allem das Schiff ans trockne Gestade                               hinaufziehn,
          Und in den Höhlen die Güter und alle Geräte verwahren!

425   Und dann machet euch auf, mich allesamt zu begleiten,
          Daß ihr unsere Freund' in Kirkes heiliger Wohnung
          Essen und trinken seht; denn sie haben da volle Genüge!

             Also sprach ich; und schnell gehorchten sie meinem                         Befehle.
          Nur Eurylochos suchte die übrigen Freunde zu halten;

430   Und er redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:

              Arme, wo gehen wir hin? Welch heißes Verlangen nach                 Unglück
          Treibt euch, in Kirkes Wohnung hinabzusteigen? Sie wird uns
          Alle zusammen in Schwein', in Löwen und Wölfe verwandeln,
          Und uns Verwandelte zwingen, ihr großes Haus zu                            bewachen!

435   Ebenso ging es auch dort den Freunden, die des Kyklopen
          Felsengrotte besuchten, geführt von dem kühnen Odysseus!
          Denn durch dessen Torheit verloren auch jene das Leben!

              Also sprach er; und ich erwog den wankenden Vorsatz,
          Mein geschliffenes Schwert von der nervichten Hüfte zu                     reißen,

440   Und sein Haupt, von dem Rumpfe getrennt, auf den Boden zu           stürzen,
          Ob er gleich nahe mit mir verwandt war. Aber die Freunde
          Sprangen umher, und hielten mich ab mit flehenden Worten:
            Göttlicher Held, wir lassen ihn hier, wenn du es befiehlest,
          Bleiben an dem Gestad' um unser Schiff zu bewahren.

445   Aber führe du uns zu Kirkes heiliger Wohnung.

             Also sprachen die Freunde, und gingen vom Strande des                 Meeres.
          Auch Eurylochos blieb nicht bei dem gebogenen Schiffe,
          Sondern folgte, geschreckt durch meine zürnende Drohung.

             Aber der übrigen Freund' in der Wohnung hatte die Göttin

450   Sorgsam gepflegt, sie gebadet, mit duftendem Öle gesalbet,
          Und mit schönen Gewanden, mit Rock und Mantel, bekleidet.
          Und wir fanden sie jetzo im Saal beim fröhlichen Schmause.
          Als sie einander gesehn, und sich nun alles erzählet;
          Weinten und jammerten sie, daß rings die Wohnung ertönte.
455   Aber sie nahte sich mir, die hehre Göttin, und sagte:

             Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus!
          Reget jetzo nicht mehr den unendlichen Jammer! Ich weiß ja,
          Wie viel Elend ihr littet im fischdurchwimmelten Meere,
          Und wie viel ihr zu Lande von feindlichen Männern erduldet.

460   Aber wohlan! eßt jetzo der Speis', und trinket des Weines,
          Bis ihr so frischen Mut in eure Herzen gesammelt,
          Als womit ihr zuerst der vaterländischen Insel
          Rauhe Gefilde verließt! Nun seid ihr entkräftet und mutlos,
          Und erinnert euch stets der mühsamen Irren, und niemals
465   Stärkt euch die Freude den Mut: ihr habt sehr vieles erlitten!

             Also sprach sie, und zwang ihr edles Herz zum Gehorsam.
          Und wir saßen ein ganzes Jahr von Tage zu Tage,
          An der Fülle des Fleisches und süßen Weines uns labend.
          Als nun endlich das Jahr von den kreisenden Horen erfüllt                 ward,

470   Und mit dem wechselnden Mond viel Tage waren                               verschwunden;
          Da beriefen mich heimlich die lieben Gefährten, und sagten:

             Unglückseliger, denke nun endlich des Vaterlandes;
          Wenn dir das Schicksal bestimmt, lebendig wieder zu kehren
          In den hohen Palast, und deiner Väter Gefilde.

475       Also bewegten die Freunde mein edles Herz zum                             Gehorsam.
          Und wir saßen den ganzen Tag bis die Sonne sich neigte,
          An der Fülle des Fleisches und süßen Weines uns labend.
          Als die Sonne nun sank, und Dunkel die Erde bedeckte,
          Legten sich meine Genossen im schattigen Hause zum                       Schlummer.

480   Und ich bestieg mit Kirke das köstlichbereitete Lager,
          Faßt' ihr flehend die Knie'; und die Göttin hörte mein Flehen.
          Und ich redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:

              Kirke, erfülle mir jetzt das Gelübde, so du gelobtest,
          Mich nach Hause zu senden! Mein Herz verlanget zur                         Heimat,

485   Und der übrigen Freunde, die rings mit Weinen und Klagen
          Meine Seele bestürmen, sobald du den Rücken nur wendest.

             Also sprach ich; mir gab die hehre Göttin zur Antwort:
          Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus.
          Länger zwing' ich euch nicht, in meinem Hause zu bleiben.

490   Aber ihr müßt zuvor noch eine Reise vollenden,
          Hin zu Aïdes' Reich und der strengen Persephoneia,
          Um des thebäischen Greises Teiresias' Seele zu fragen,
          Jenes blinden Propheten, mit ungeschwächtem Verstande.
          Ihm gab Persephoneia im Tode selber Erkenntnis;
495   Und er allein ist weise: die andern sind flatternde Schatten.

             Also sagte die Göttin; mir brach das Herz vor Betrübnis.
          Weinend saß ich auf Kirkes Bett, und wünschte nicht länger,
          Unter den Lebenden hier das Licht der Sonne zu schauen.
          Als ich endlich mein Herz durch Weinen und Wälzen                         erleichtert;

500   Da antwortet' ich ihr, und sprach die geflügelten Worte:

             Kirke, wer soll mich denn auf dieser Reise geleiten?
          Noch kein Sterblicher fuhr im schwarzen Schiffe zu Aïs.

             Also sprach ich; mir gab die hehre Göttin zur Antwort:
          Edler Laertiad', erfindungsreicher Odysseus,

505   Kümmre dich nicht so sehr um einen Führer des Schiffes!
          Sondern richte den Mast, und spanne die schimmernden                   Segel;
          Dann sitz ruhig, indes der Hauch des Nordes dich hintreibt!
          Aber bist du im Schiffe den Ocean jetzo durchsegelt,
          Und an dem niedern Gestad' und den Hainen Persephoneiens,
510    Voll unfruchtbarer Weiden und hoher Erlen und Pappeln;
          Lande dort mit dem Schiff' an des Oceans tiefem Gestrudel,
          Und dann gehe du selber zu Aïdes dumpfer Behausung.
          Wo in den Acheron sich der Pyriphlegethon stürzet,
          Und der Strom Kokytos, ein Arm der stygischen Wasser,
515    An dem Fels, wo die zween lautbrausenden Ströme sich                     mischen;
          Nahe bei diesem Orte gebiet' ich dir, edler Odysseus,
          Eine Grube zu graben, von einer Ell' ins Gevierte.
          Rings um die Grube geuß Sühnopfer für alle Toten:
          Erst von Honig und Milch, von süßem Weine das zweite,
520   Und das dritte von Wasser, mit weißem Mehle bestreuet.
          Dann gelobe flehend den Luftgebilden der Toten:
          Wenn du gen Ithaka kommst, eine Kuh, unfruchtbar und                   fehllos,
          In dem Palaste zu opfern, und köstliches Gut zu verbrennen,
          Und für Teiresias noch besonders den stattlichsten Widder
525   Eurer ganzen Herde, von schwarzer Farbe, zu schlachten.
          Hast du den herrlichen Scharen der Toten geflehet, dann                   opfre
          Einen Bock und ein Schaf von ungezeichneter Schwärze,
          Ihre Häupter gekehrt zum Erebos; aber du selber
          Wende dein Antlitz zurück nach den Fluten des Stromes.                   Dann werden
530   Viele Seelen kommen der abgeschiedenen Toten.
          Jetzo ermahn' und treib aufs äußerste deine Gefährten,
          Beide liegenden Schafe, vom grausamen Erze getötet,
          Abzuziehn, und ins Feuer zu werfen, und anzubeten
          Aïdes schreckliche Macht und die strenge Persephoneia.
535   Aber du reiße schnell das geschliffene Schwert von der Hüfte,
          Setze dich hin, und laß die Luftgebilde der Toten
          Sich dem Blute nicht nahn, bevor du Teiresias ratfragst.
          Und bald wird der Prophet herwandeln, o Führer der Völker,
          Daß er dir weissage den Weg und die Mittel der Reise,
540   Und wie du heimgelangst auf dem fischdurchwimmelten                   Meere.

             Also sprach sie; da kam die goldenthronende Eos.
          Und sie bekleidete mich mit wollichtem Mantel und Leibrock;
          Aber sich selber zog die Nymphe ihr Silbergewand an,
          Lang, anmutig und fein; und schlang um die Hüfte den                       schönen

545   Goldgetriebenen Gürtel, und schmückte das Haupt mit dem             Schleier.
          Aber ich ging durch die Burg, und ermunterte meine                           Gefährten,
          Trat zu jeglichem Mann, und sprach die freundlichen Worte:

              Lieget nun nicht länger, vom süßen Schlummer umduftet!
          Laßt uns reisen, denn schon ermahnt mich die göttliche                     Kirke!

550       Also sprach ich, und zwang ihr edles Herz zum Gehorsam.
          Aber ich führt' auch von dannen nicht ohne Verlust die                       Gefährten.
          Denn der Jüngste der Schar Elpenor, nicht eben besonders
          Tapfer gegen den Feind, noch mit Verstande gesegnet,
          Hatte sich heimlich beiseit' auf Kirkes heilige Wohnung,

555   Von der Hitze des Weins sich abzukühlen, gelagert.
          Jetzo vernahm er den Lärm und das rege Getümmel der                     Freunde;
          Plötzlich sprang er empor, und vergaß in seiner Betäubung,
          Wieder hinab die Stufen der langen Treppe zu steigen;
          Sondern er stürzte sich grade vom Dache hinunter; der                       Nacken
560   Brach aus seinem Gelenk, und die Seele fuhr in die Tiefe.

              Zu der versammelten Schar der übrigen sprach ich im                     Gehen:
          Freunde, ihr wähnt vielleicht, zur lieben heimischen Insel
          Hinzugehn; doch Kirke gebeut eine andere Reise,
          Hin zu Aïdes' Reich und der strengen Persephoneia,

565   Um des thebäischen Greises Teiresias' Seele zu fragen.

             Als sie dieses vernommen, da brach ihr Herz vor Betrübnis;
          Jammernd setzten sie sich in den Staub, und rauften ihr                     Haupthaar:
          Aber sie konnten ja nichts mit ihrer Klage gewinnen.

             Während wir nun zu dem rüstigen Schiff am Strande des                 Meeres

570   Herzlich bekümmert gingen, und viele Tränen vergießend;
          Ging auch Kirke dahin, und band bei dem schwärzlichen                     Schiffe
          Einen Bock und ein Schaf von ungezeichneter Schwärze,
          Leicht uns vorüberschlüpfend. Denn welches Sterblichen                   Auge
          Mag des Unsterblichen Gang, der sich verhüllet, entdecken?