Homer
Odyssee - Kapitel 30
          Also sprach sie; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,
205   Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter.
          Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu                       drücken;
          Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein                   Traumbild,
          Meinen umschlingenden Armen; und stärker ergriff mich die             Wehmut.
          Und ich redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:

210        Meine Mutter, warum entfliehst du meiner Umarmung?
          Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Händen                             umschlungen,
          Unser trauriges Herz durch Tränen einander erleichtern?
          Oder welches Gebild' hat die furchtbare Persephoneia
          Mir gesandt, damit ich noch mehr mein Elend beseufze?

215       Also sprach ich; mir gab die treffliche Mutter zur Antwort:
          Mein geliebtester Sohn, Unglücklichster aller, die leben!
          Ach! sie täuschet dich nicht, Zeus' Tochter Persephoneia!
          Sondern dies ist das Los der Menschen, wann sie gestorben.
          Denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven                     verbunden;

220   Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret
          Alles, sobald der Geist die weißen Gebeine verlassen.
          Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der               iefe.
          Aber nun eile geschwinde zum Lichte zurück, und behalte
          Alles, damit du es einst der lieben Gattin erzählest.

225       Also besprachen wir uns miteinander. Siehe da kamen
          Viele Seelen, gesandt von der furchtbaren Persephoneia,
          Alle Gemahlinnen einst und Töchter der edelsten Helden.
          Diese versammelten sich um das schwarze Blut in der Grube.
          Jetzo sann ich umher, wie ich jedwede befragte.
230   Aber von allen Entwürfen gefiel mir dieser am besten:
          Eilend zog ich das lange Schwert von der nervichten Hüfte,
          Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken.
          Also nahten sie sich nacheinander; jede besonders
          Meldete mir ihr Geschlecht; und so befragt' ich sie alle.

235       Jetzo erblickt' ich zuerst die edelentsprossene Tyro,
          Welche sich Tochter nannte des tadellosen Salmoneus,
          Und die Ehegenossin von Kretheus, Äolos' Sohne.
          Diese liebte vordem den göttlichen Strom Enipeus,
          Der durch seine Gefilde, der Ströme schönster, einherwallt.

240   Einst lustwandelte sie an Enipeus' schönen Gewässern;
          Siehe da nahm der Erderschüttrer seine Gestalt an,
          Und beschlief sie im Sand', an der Mündung des wirbelnden             Stromes.
          Rings um die Liebenden stand, wie ein Berg, die purpurne                   Woge,
          Hochgewölbt, und verbarg den Gott und die sterbliche                       Jungfrau.
245   Schmeichelnd löst' er den Gürtel der Keuschheit, und ließ sie             entschlummern.
          Und da jetzo der Gott das Werk der Liebe vollendet;
          Drückt' er des Mädchens Hand, und sagte mit freundlicher               Stimme:

              Freue dich, Mädchen, der Liebe! Du wirst im Laufe des                   Jahres
          Herrliche Söhne gebären. Denn nicht unfruchtbaren Samen

250   Streut ein unsterblicher Gott. Du pfleg' und nähre sie                           sorgsam.
          Jetzo gehe zu Haus', und schweig, und sage dies niemand:
          Ich, dein Geliebter, bin der Erderschüttrer Poseidon.
              Also sprach er, und sprang in des Meers hochwallende                   Woge.
          Tyro ward schwanger, und kam mit Pelias nieder und Neleus,

255   Welche beide des großen Zeus' gewaltige Diener
          Wurden: Pelias einst, der iaolkischen Fluren
          Herdenreicher Beherrscher, und Neleus, der sandigen Pylos.
          Andere Söhne gebar dem Kretheus die Fürstin der Weiber,
          Äson und Pheres, und drauf Amythaon, den Tummler der                   Rosse.

260       Auch Antiope kam, die schöne Tochter Asopos',
          Rühmend, sie habe geruht in Zeus' des Kroniden Umarmung.
          Und sie gebar dem Gott zween Söhne, Amphion und Zethos.
          Diese bauten zuerst die siebentorichte Thebä,
          Und befestigten sie; denn unbefestigt konnten

265   Beide, wie stark sie auch waren, die große Thebä nicht                       schützen.

              Hierauf kam Alkmene, Amphitryons Ehegenossin,
          Welche den Allbesieger, den löwenbeherzten Herakles
          Hatte geboren, aus Zeus', des großen Kroniden, Umarmung.
          Auch Megare, die Tochter des übermütigen Kreions,

270   Und des nimmerbezwungnen Amphitryoniden Gemahlin.

              Hierauf kam Epikaste, die schöne, Ödipus' Mutter,
          Welche die schrecklichste Tat mit geblendeter Seele verübet.
          Ihren leiblichen Sohn, der seinen Vater ermordet,
          Nahm sie zum Mann! Allein bald rügten die Götter die                       Schandtat.
275   Ödipus herrschte, mit Kummer behäuft, in der lieblichen                     Thebä,
          Über Kadmos' Geschlecht, durch der Götter verderblichen                 Ratschluß.
          Aber sie fuhr hinab zu den festen Toren des Todes,
          Denn sie knüpft' an das hohe Gebälk, in der Wut der                           Verzweiflung,
          Selbst das erdrosselnde Seil, und ließ unnennbares Elend
280   Jenem zurück, den Fluch der blutgeschändeten Mutter.

              Jetzo nahte sich Chloris, die schöne Gemahlin von Neleus.
          Mit unzähligen Gaben gewann er die schönste der Jungfraun,
          Sie, die jüngste Tochter des Jasiden Amphions,
          Welcher der Minyer Stadt Orchomenos mächtig beherrschte.

285   Pylos Fürstin gebar dem Neleus herrliche Söhne,
          Nestor gebar sie ihm, und Chromios, und den berühmten
          Periklymenos; drauf die weitbewunderte Pero.
          Diese liebeten alle benachbarten Fürsten; doch Neleus
          Gab sie keinem, der nicht des mächtigen Königs Iphikles'
290   Breitgestirnete Rinder aus Phylakes Auen entführte.
          Schwer war die Tat, und nur der treffliche Seher Melampus
          Unternahm sie: allein ihn hinderte Gottes Verhängnis,
          Seine grausamen Band', und die Hirten der weidenden Rinder.
          Aber nachdem die Monden und Tage waren vollendet,
295   Und ein neues Jahr mit den kreisenden Horen herankam;
          Siehe da löste den Seher der mächtige König Iphikles,
          Weil er ihm prophezeit. So geschah der Wille Kronions.

             Jetzo erblickt' ich Leda, Tyndareos' Ehegenossin,
          Welche ihrem Gemahl zween mutige Söhne geboren:

300   Kastor durch Rosse berühmt, und Polydeikes im Faustkampf.
          Diese leben noch beid' in der allernährenden Erde.
          Denn auch unter der Erde beehrte sie Zeus mit dem Vorrecht,
          Daß sie beid' abwechselnd den einen Tag um den andern
          Leben und wieder sterben, und göttlicher Ehre genießen.

305      Drauf kam Iphimedeia, die Ehegenossin Aloeus,
          Rühmend, sie habe geruht in Poseidaons Umarmung.
          Und sie gebar zween Söhne, wiewohl ihr Leben nur kurz war:
          Otos voll göttlicher Kraft, und den ruchtbaren Ephialtes.
          Diese waren die längsten von allen Erdebewohnern,

310    Und bei weitem die schönsten, nach jenem berühmten Orion.
          Denn im neunten Jahre, da maß neun Ellen die Breite
          Ihres Rumpfes, da maß neun Klaftern die Höhe des Hauptes.
          Und sie drohten sogar den Unsterblichen, ihren Olympos
          Mit verheerendem Sturm und Schlachtengetümmel zu füllen.
315    Ossa mühten sie sich auf Olympos zu setzen, auf Ossa
          Pelions Waldgebirg', um hinauf in den Himmel zu steigen.
          Und sie hätten's vollbracht, wär' ihre Jugend gereifet.
          Aber sie traf Zeus' Sohn, den die reizende Leto geboren,
          Beide mit Todesgeschoß, eh' unter den Schläfen des Bartes
320   Blume wuchs, und dem Kinn die zarten Sprößlinge bräunten.

              Drauf kam Phädra und Prokris, und Ariadne die schöne,
          Jene Tochter Minos des Allerfahrnen, die Theseus
          Einst aus Kreta entführte zur heiligen Flur von Athenä.
          Aber er brachte sie nicht; denn in der umflossenen Dia

325   Hielt sie Artemis an, auf Dionysos Verkündung.

             Mära und Klymene kam, und das schändliche Weib                         Eriphyle,
          Welche den teuren Gemahl um ein goldenes Kleinod                           verkaufte.

             Aber ich kann unmöglich sie alle beschreiben und nennen,
          Welche Weiber und Töchter berühmter Helden ich schaute.

330   Sonst vergeht die ambrosische Nacht; und die Stunde gebeut           mir,
          Schlafen zu gehn, bei den Freunden in unserm gerüsteten                 Schiffe,
          Oder auch hier, Die Reise befehl' ich euch und den Göttern.

             Also sprach er; und alle verstummten umher, und                             schwiegen,
          Horchten noch, wie entzückt, im großen schattigen Saale.

335   Endlich begann Arete, die lilienarmige Fürstin:

              Sagt mir doch, ihr Phäaken, was haltet ihr von dem Manne,
          Seiner Gestalt und Größe, mit solchem Geiste vereinigt?
          Seht, das ist mein Gast! Doch jeder hat teil an der Ehre.
          Darum sendet ihn nicht so eilend, und spart die Geschenke

340   Bei dem darbenden Manne nicht allzukärglich; ihr habt ja
          Reiche Schätze daheim, durch die Gnade der Götter,                           verwahret!

              Hierauf sprach zur Versammlung der graue Held Echeneos,
          Welcher der älteste war von allen phäakischen Männern:

             Freunde, nicht unserem Wunsch, noch unsrer Erwartung                 entgegen,

345   Redete jetzt voll Weisheit die Königin; darum gehorchet!
          Aber Alkinoos selber gebührt es zu reden und handeln.

               Ihm antwortete drauf Alkinoos wieder, und sagte:
          Ja dies Wort soll wahrlich erfüllet werden, wofern ich
          Leben bleib', ein König der rudergeübten Phäaken!

350   Aber der Fremdling wolle, wie sehr er zur Heimat verlanget,
          Noch bis morgen bei uns verweilen, bis ich das ganze
          Ehrengeschenk ihm bereitet. Die Fahrt liegt allen am Herzen,
          Aber vor allen mir; denn mein ist die Herrschaft des Volkes.
         

              Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

355   Weitgepriesener Held, Alkinoos, mächtigster König!
          Zwänget ihr mich allhier auch ein ganzes Jahr zu verweilen,
          Und betriebt nur die Fahrt, und schenktet mir                                       Ehrengeschenke;
          Gerne willigt' ich ein; auch wäre mir besser geraten,
          Wenn ich mit vollerer Hand in mein liebes Vaterland kehrte.
360   Weit willkommener würd' ich und weit ehrwürdiger allen
          Männern in Ithaka sein, die mich Heimkehrenden sähen.

            Ihm antwortete drauf Alkinoos wieder, und sagte:
          Deine ganze Gestalt, Odysseus, kündet mit nichten
          Einen Betrüger uns an, noch losen Schwätzer; wie viele

365   Sonst die verbreiteten Völker der schwarzen Erde                                 durchstreifen,
          Welche Lügen erdichten, woher sie keiner vermutet.
          Aber in deinen Worten ist Anmut und edle Gesinnung;
          Gleich dem weisesten Sänger, erzähltest du die Geschichte
          Von des argeiischen Heers und deinen traurigen Leiden.
370   Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit,
          Ob du einige sahst der göttlichen Freunde, die mit dir
          Hin gen Ilion zogen, und dort ihr Schicksal erreichten.
          Diese Nächte sind lang, sehr lang! und noch ist die Stunde
          Schlafen zu gehn nicht da. Erzähle mir Wundergeschichten.
375   Selbst bis zur heiligen Frühe vermöcht' ich zu hören, so lange
          Du in diesem Gemache mir deine Leiden erzähltest!

            Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Weitgepriesener Held, Alkinoos, mächtigster König!
          Reden hat seine Stund', und seine Stunde der Schlummer.

380   Aber wenn du verlangst, mich weiter zu hören, so will ich
          Ohne Weigern dir jetzt noch tränenwerteres Unglück
          Meiner Freunde verkünden, die nachmals ihr Leben verloren;
          Die den blutigen Schlachten des troischen Krieges entrannen,
          Und auf der Heimkehr starben, durch List des heillosen                       Weibes.

385       Als sich auf den Befehl der schrecklichen Persephoneia
          Alle Seelen der Weiber umher in die Tiefe zerstreuet;
          Siehe da kam die Seele von Atreus' Sohn Agamemnon
          Traurend daher, umringt von anderen Seelen, die mit ihm,
          In Ägisthos' Palaste, das Ziel des Todes erreichten.

390   Dieser erkannte mich gleich, sobald er des Blutes gekostet.
          Und nun weint' er laut, und vergoß die bittersten Tränen,
          Streckte die Hände nach mir, und strebte mich zu umarmen.
          Aber ihm mangelte jetzo die spannende Kraft und die                         Schnelle,
          Welche die biegsamen Glieder des Helden vormals belebte.
395   Weinend erblickt' ich ihn, und fühlete herzliches Mitleid;
          Und ich redet' ihn an, und sprach die geflügelten Worte:

             Atreus' rühmlicher Sohn, weitherrschender Held                               Agamemnon,
          Welches Schicksal bezwang dich des schlummergebenden               Todes?
          Tötete dich auf der Fahrt der Erderschüttrer Poseidon,

400   Da er den wilden Orkan lautbrausender Winde dir sandte?
          Oder ermordeten dich auf dem Lande feindliche Männer,
          Als du die schönen Herden der Rinder und Schafe                               hinwegtriebst,
          Oder indem sie die Stadt und ihre Weiber verfochten?