Homer
Odyssee - Kapitel 61
                            Vierundzwanzigster Gesang

Die Seelen der Freier finden in der Unterwelt den Achilleus mit Agamemnon sich unterredend: jener, der ruhmvoll vor Troja starb, sei glücklich vor diesem, der heimkehrend ermordet ward. Agamemnon, dem Amphimedon das Geschehene nach seiner Vorstellung erzählt, preiset die Glückseligkeit des siegreich heimkehrenden Odysseus. Dieser indes entdeckt sich dem Vater Laertes mit schonender Vorsicht, und wird beim Mahle von Dolios und dessen Söhnen erkannt. Eupeithes, des Antinoos' Vater, erregt einen Aufruhr, der nach kurzem Kampfe durch Athene gestillt wird.

          Aber Hermes, der Gott von Kyllene, nahte sich jetzo,
          Rief den Seelen der Freier, und hielt in der Rechten den                       schönen
          Goldenen Herrscherstab, womit er die Augen der Menschen
          Zuschließt, welcher er will, und wieder vorn Schlummer                     erwecket:
5        Hiermit scheucht' er sie fort, und schwirrend folgten die                     Seelen.
          So wie die Fledermäus' im Winkel der graulichen Höhle
          Schwirrend flattern, wenn eine des angeklammerten                           Schwarmes
          Nieder vom Felsen sinkt, und drauf aneinander sich hangen:
          Also schwirrten die Seelen, und folgten in drängendem Zuge
10      Hermes, dem Retter in Not, durch dumpfe schimmlichte           Pfade.
          Und sie gingen des Oceans Flut, den leukadischen Felsen,
          Gingen das Sonnentor, und das Land der Träume vorüber,
          Und erreichten nun bald die graue Asphodeloswiese,
          Wo die Seelen wohnen, die Luftgebilde der Toten.

15         Und sie fanden die Seele des Peleiden Achilleus,
          Und die Seele Patroklos, des tapfern Antilochos Seele,
          Und des gewaltigen Ajas, des Ersten an Wuchs und Bildung
          In dem achaiischen Heer, nach dem tadellosen Achilleus:
          Diese waren stets um den Peleionen versammelt.

20     Eben kam auch die Seele von Atreus' Sohn Agamemnon
          Traurend daher, umringt von anderen Seelen, die mit ihm,
          In Ägisthos Palaste, das Ziel des Todes erreichten.
          Zu den Kommenden sprach die Seele des Peleionen:
             Atreus' Sohn, wir dachten, der donnerfrohe Kronion

25      Hätte dich unter den Helden auf immer zum Liebling erkoren;
          Weil du das große Heer der tapfersten Sieger beherrschtest,
          In dem troischen Lande, wo Not uns Achaier umdrängte.
          Aber es mußte auch dich sobald des Todes Verhängnis
          Treffen, welchem kein Mensch, vom Weibe geboren,                           entfliehet.
30     Hättest du doch, umringt von den glänzenden Ehren der                     Herrschaft,
          Dort im Lande der Troer, das Ziel des Todes erreichet!
          Denn ein Denkmal hätte der Griechen Volk dir errichtet,
          Und so wäre zugleich dein Sohn bei den Enkeln verherrlicht.
          Aber es war dein Los, des traurigsten Todes zu sterben!

35       Ihm antwortete drauf die Seele des großen Atreiden:
          Glücklicher Peleide, du göttergleicher Achilleus,
          Der du vor Ilion starbst, von Argos ferne! Denn ringsum
          Sanken die tapfersten Söhne der Troer und der Achaier,
          Kämpfend um deine Leiche: du lagst in der Wolke des                         Staubes,

40     Groß, weithingestreckt, ausruhend vom Wagengetümmel!
          Aber wir kämpften den ganzen Tag, und kämpften noch                     immer
          Brennend vor Wut, bis Zeus durch Sturm und Wetter uns                   trennte.
          Jetzo trugen wir dich aus der Schlacht zu unseren Schiffen,
          Wuschen den schönen Leib mit lauem Wasser, und legten
45     Ihn mit Balsam gesalbt auf prächtige Betten; und ringsum
          Weinten und jammerten laut die Achaier, und schoren ihr                 Haupthaar.
          Auch die Mutter entstieg mit den heiligen Nymphen dem                   Meere,
          Als sie die Botschaft vernahm; von lautwehklagenden                         Stimmen
          Hallte die Flut: und Entsetzen ergriff das Heer der Achaier.
50     Zitternd wären sie schnell zu den hohlen Schiffen geflohen;
          Aber es hielt sie der Mann von alter und großer Erfahrung,
          Nestor, dessen Rat wir auch ehmals immer bewundert;
          Dieser erhub im Heere die Stimme der Weisheit, und sagte:
            Haltet ein, Argeier, und flieht nicht, Söhne Achaias!

55     Dies ist seine Mutter mit ihren unsterblichen Nymphen,
         Welche dem Meer entsteigt, den toten Sohn zu bejammern!

            Also sprach er, und hemmte die Flucht der edlen Achaier.
          Lautwehklagend standen um dich des alternden Meergotts
          Töchter, und kleideten dich mit ambrosiaduftenden Kleidern.

60     Gegeneinander sangen mit schöner Stimme die Musen
          Alle neun, und weinten: da siehe man keinen Argeier
          Tränenlos; so rührten der Göttinnen helle Gesänge.
          Siebzehn Tag' und Nächte beweinten wir unaufhörlich
          Deinen Tod, der Unsterblichen Chor und die sterblichen                     Menschen.
65     Am achtzehnten verbrannten wir dich, und schlachteten                     ringsum
          Viele gemästete Schaf' und krummgehörnete Rinder.
          Aber du lagst umhüllt mit Göttergewanden, und um dich
          Standen Gefäße mit Öl und süßem Honig; und viele
          Helden Achaias rannten gerüstet, zu Fuß und zu Wagen,
70     Rings um das lodernde Feuer; es stieg ein lautes Getös auf.
          Als dich Hephästos' Flamme verzehrt; da gossen wir morgens
          Lauteren Wein in die Asche, und sammelten, edler Achilleus,
          Deine weißen Gebeine, mit zwiefachem Fette bedeckend.
          Aber die Mutter brachte die goldne gehenkelte Urne,
75     Dionysos' Geschenk, und ein Werk des berühmten                              Hephästos.
          Hierin ruht dein weißes Gebein, ruhmvoller Achilleus,
          Mit dem Gebeine vermischt des Menötiaden Patroklos,
          Und gesondert die Asche Antilochos', den du vor allen
          Anderen Freunden ehrtest, nach deinem geliebten Patroklos.
80     Und das heilige Heer der sieggewohnten Achaier
          Häufte darüber ein großes und weitbewundertes Denkmal
          Auf der Spitze des Landes am breiten Hellespontos,
          Daß es fern im Meere vorüberschiffende Männer
          Sähen, die jetzo leben, und spät in kommenden Jahren.
85     Aber die Mutter bracht' auf den Kampfplatz köstliche Preise,
          Von den Göttern erfleht, für die Tapfersten aller Achaier.
          Schon bei vieler Helden Begräbnis warst du zugegen,
          Sahst die Jünglinge oft am Ehrenhügel des Königs
          Zum Wettkampfe sich gürten um manches schimmernde                 Kleinod;
90     Dennoch hättest du dort mit tiefem Erstaunen betrachtet,
          Welche köstliche Preise die silberfüßige Thetis
          Dir zu Ehren gesetzt: denn du warst ein Liebling der Götter!
          Also erlosch auch im Tode nicht dein Gedächtnis, und ewig
          Glänzet bei allen Menschen dein großer Namen, Achilleus.
95     Aber was frommte mir des rühmlichen Krieges Vollendung?
          Selbst bei der Heimkehr weihte mich Zeus dem                                   schrecklichsten Tode
          Unter Ägisthos' Hand und der Hand des heillosen Weibes.
             Also besprachen sich diese jetzo untereinander,
          Jetzo nahte sich ihnen der rüstige Argosbesieger,

100   Und ihm folgte zur Tiefe die Schar der erschlagenen Freier.
          Voll Verwunderung gingen die Könige ihnen entgegen.
          Und der hohe Schatten von Atreus' Sohn Agamemnon
          Kannte des Melaniden, des tapfern Amphimedons Seele,
          Welcher sein Gastfreund war in Ithakas felsichtem Eiland.
105    Zu dem Kommenden sprach die Seele des großen Atreiden:

             Was, Amphimedon, führt euch ins unterirdische Dunkel?
          Lauter erlesene Männer von gleichem Alter! Man würde
          Schwerlich in einer Stadt so treffliche Männer erlesen!
          Tötet' euch etwa in Schiffen der Erderschüttrer Poseidon,

110    Da er den wilden Orkan und die steigenden Wogen empörte?
          Oder ermordeten euch auf dem Lande feindliche Männer,
          Als ihr die schönen Herden der Rinder und Schafe                               hinwegtriebt,
          Oder indem sie die Stadt und ihre Weiber verfochten?
          Lieber, sage mir dies; ich war ja im Leben dein Gastfreund.
115     Weißt du nicht mehr, wie ihr mich in eurem Hause bewirtet,
          Als ich Odysseus ermahnte, dem göttlichen Menelaos
          Mit gen Troja zu folgen in schöngebordeten Schiffen?
          Erst nach einem Monat entschifften wir eurem Gestade,
          Und beredeten kaum den Städteverwüster Odysseus.

120    Also sprach er; ihm gab Amphinomos' Seele zur Antwort:
          Atreus' rühmlicher Sohn, weitherrschender Held                                  Agamemnon,
          Dieses weiß ich noch alles, und will umständlich erzählen,
          Wie uns so plötzlich die Stunde des schrecklichen Todes                   ereilt hat.
          Siehe, wir liebten die Gattin des langentfernten Odysseus.
125    Nimmer versagte sie uns, und vollendete nimmer die                         Hochzeit,
          Heimlich uns allen den Tod und das schwarze Verhängnis                 bereitend.
          Unter anderen Listen ersann sie endlich auch diese.
          Trüglich zettelte sie in ihrer Kammer ein feines
          Übergroßes Geweb', und sprach zu unsrer Versammlung:
130    Jünglinge, die ihr mich liebt, nach dem Tode des edlen                       Odysseus!
          Dringt auf meine Vermählung nicht eher, bis ich den Mantel
          Fertig gewirkt, (damit nicht umsonst das Garn mir verderbe!)
          Welcher dem Helden Laertes zum Leichengewande bestimmt           ist,
          Wenn ihn die finstre Stunde mit Todesschlummer                               umschattet:
135    Daß nicht irgend im Lande mich eine Achaierin tadle,
          Läg' er uneingekleidet, der einst so vieles beherrschte.
          Also sprach sie mit List, und bewegte die Herzen der Edlen.
          Und nun webete sie des Tages am großen Gewebe,
          Aber des Nachts, dann trennte sie's auf, beim Scheine der                 Fackeln.
140   Also täuschte sie uns drei Jahr' und betrog die Achaier.
          Als nun das vierte Jahr im Geleite der Horen herankam,
          Und mit dem wechselnden Mond viel Tage waren                               verschwunden;
          Da verkündet' uns eine der Weiber das schlaue Geheimnis,
          Und wir fanden sie selbst bei der Trennung des schönen                     Gewebes.
145    Also mußte sie's nun, auch wider Willen, vollenden.
          Als sie den großen Mantel gewirkt und sauber gewaschen,
          Und er hell, wie die Sonn' und der Mond, entgegen uns                       glänzte;
          Siehe da führte mit einmal ein böser Dämon Odysseus
          Draußen zum Meierhof, den der Schweine Hüter bewohnte.
150    Dorthin kam auch der Sohn des göttergleichen Odysseus,
          Der von der sandigen Pylos im schwarzen Schiffe zurückfuhr.
          Diese bereiteten sich zum schrecklichen Morde der Freier,
          Gingen dann in die prächtige Stadt: der edle Odysseus
          War der letzte, sein Sohn Telemachos kam zuerst an.
155    Aber der Sauhirt führte den schlechtgekleideten König,
          Der, wie ein alter Mann und mühebeladener Bettler,
          Wankend am Stabe schlich, mit häßlichen Lumpen bekleidet.
          Keiner konnte von uns den plötzlich erscheinenden Fremdling
          Für Odysseus erkennen, auch selbst von den Ältesten keiner;
160    Sondern alle verspotteten wir und warfen den Fremdling.
          Und Odysseus ertrug zuerst in seinem Palaste
          Unsre kränkenden Reden und Würfe mit duldender Seele.
          Aber als ihn der Geist des Donnergottes erweckte,
          Nahm er mit seinem Sohn aus dem Saale die zierliche                         Rüstung,
165    Trug sie hinauf in den Söller, und schloß die Pforte mit                        Riegeln;
          Ging dann hin, und befahl arglistig seiner Gemahlin,
          Uns den Bogen zu bringen und blinkende Eisen, zum                           Wettkampf
          Uns unglücklichen Freiern, und zum Beginne des Mordens.
          Aber es konnte von uns nicht einer des mächtigen Bogens
170    Senne spannen; zu sehr gebrach es allen an Stärke.
          Doch wie der Sauhirt jetzo den großen Bogen Odysseus
          Brachte; da zürnten wir alle, und schalten mit drohenden                   Worten,
          Daß er den Bogen ihm nicht darreichte, was er auch sagte;
          Aber Telemachos rief, und befahl ihm, weiter zu gehen.
175    Und nun nahm er den Bogen, der herrliche Dulder Odysseus,
          Spannt' ihn ohne Bemühn, und schnellte den Pfeil durch die               Äxte,
          Sprang auf die Schwelle, die Pfeile dem Köcher entschüttend,           und blickte
          Drohend umher, und schoß; und Antinoos stürzte zu Boden.
          Und nun flog auf die andere des scharf hinzielenden Königs
180    Schreckliches Todesgeschoß; und Haufen sanken bei Haufen.
          Und man erkannte leicht, daß ihnen ein Himmlischer                           beistand.
          Denn bald stürzten sie wütend sich unter den Haufen, und                 würgten
          Links und rechts durch den Saal: mit dem Krachen                               zerschlagener Schädel
          Tönte das Jammergeschrei, und Blut floß über den Boden.
185    Also kamen wir um, Agamemnon, und unsere Leiber
          Liegen noch unbestattet im Hause des edlen Odysseus.
          Denn noch wissen es nicht die Freund' in unseren Häusern,
          Daß sie das schwarze Blut aus den Wunden waschen, und                 klagend
          Unsere Bahr' umringen: die letzte Ehre der Toten!