Georg Kreisler
Gnädige Frau
Fühl'n Sie manchmal auch, gnädige Frau
Den Dreck, gnädige Frau
Der Liebe?
Fühl'n Sie manchmal auch, gnädige Frau
Die kalte Schufterei bei einem Ball?
Jemand singt von Liebe –
Als könnte man sie singen!
Sind Sie nie bestürzt, gnädige Frau
Dass man Sie mit gnädige Frau anspricht, gnädige Frau?
Lieben Sie Musik, gnädige Frau
Den Tanz, gnädige Frau
Die Männer?

Träumen Sie manchmal, gnädige Frau
Und vergessen dann tagsüber Ihren Traum?
Träumen Sie von Kindern –
Auch solchen, die verhungern?
Nein, Sie sind doch Mensch, gnädige Frau
Und die andern sind es kaum!

Ihr Kleid ist ein Gedicht –
Wie man Sie anstarrt!
Sie sind so schön und können nichts dafür –
Wer noch kann nichts dafür von allen Menschen?
Der General, der drüben tanzt
Und morgen irgendwem befiehlt
Ballistik oder Abwehr zu studier'n?
Ja, wo beginnt die Schuld, wo hört sie auf –
Bei dem, der ein Lächeln auslöscht
Oder bei dem, der trotzdem weiterlächelt?
Beim Tanzen – Beim Flirten?

Fühlen Sie manchmal auch, gnädige Frau
Die Pflicht, gnädige Frau
Noch heute irgendwas zu tun –
Nicht nur hier zu sein, gnädige Frau
Und zu warten, dass man Sie zerstreut und unterhält?
Oder rauchen Sie zu viel, gnädige Frau?
Und wer ist Ihr Lieblingsfernsehstar, gnädige Frau?
(Ach der Peter Ale...)
Und was kriegt Ihr Mann zu Weihnachten, gnädige Frau?
Und wohin fahren Sie im Sommer?
Gnädige Frau?
Wenn Sie applaudieren, gnädige Frau
Und lächeln, gnädige Frau
Und für den Geiger jetzt ein kleines Trinkgeld bestellen
Haben Sie keine Angst, gnädige Frau
Dieser Geiger verzichtet auf Ihr Geld? –
Wenn er Sie jetzt ohrfeigt?
Aber er bedankt sich!
Und Sie tanzen weiter, gnädige Frau
Und weiter stirbt die Welt!