Georg Kreisler
Beobachtung
Der Chef gab mir vertraulich die Adresse
Ich solle mich gleich an die Arbeit machen
Es sei des Staates höchstes Interesse
Den Mann dort Tag und Nacht zu überwachen
Ich folgte diesem Mann auf allen Wegen
Ich stand vier Nächte lang vor seinem Haus –
Verlor ihn selbst beim Pimpern
Nicht einmal aus den Wimpern
Und dabei was seltsames heraus:

Er beobachtet mich
Ganz genau wie ich ihn
Wo ich bin ist auch er
Geh' ich grad, steht er quer
Und blickt wachsam zu mir hin
Erst verfolge ich ihn
Und dann geh' ich ein Stück voran –
Bis man zwischen uns keinen Unterschied merken kann

Ein Wissenschaftler, dem ich dieses sagte
Erzählte mir darauf bei ein paar Bieren:
"Der Virus den ich kürzlich erst erjagte
Der benimmt sich auch nicht so wie and're Viren
Ich hab' ihn unter meinem Mikroskope
Mit Müh' und Sorgfalt endlich isoliert
Und hab' zu meinem Schrecken
Statt Neues zu entdecken
Bei diesem Virus deutlich konstatiert:

Er beobachtet mich
Ganz genau wie ich ihn
Schau ich durch, schaut er fort
Schau ich fort, ist er dort
Und blickt wachsam zu mir hin
Er ist sehr int'ressant
Und doch was fang' ich mit ihm an –
Wenn man zwischen uns keinen Unterschied merken kann?"

Ich glaub' wo immer Menschen sich bewegen
Entdecken wir die gleichen Komponenten
Bei Liebessachen, sowie bei Kollegen
Bei Mitarbeitern wie bei Konkurrenten –
Wir halten uns für praktisch und vernünftig
Für ehrlich und vor allem objektiv
Doch weil ja etwas schief ist
Wenn jeder objektiv ist
Bleibt zuverlässig jeder aggressiv
Sie beobachten mich
Ganz genau wie ich sie
Und sie denken sich still:
"Er singt nicht, was ich will
Und zur falschen Melodie!"
Alle Schuldigen schau'n
Alle Unschuldigen an –
Bis man zwischen beiden keinen Unterschied merken kann