Georg Kreisler
Die Angst
An meiner Ecke steht des Nachts ein Polizist
Der ganz bestimmt ein Meter fünfundneunzig misst
Er steht so aufrichtig und grad' da wie ein Sultan
Die ganze Würde des Gesetztes auf den Schultan!
Ich sprach ihn deshalb eines Nachts um zwei mal an
Und fragte, ob man sich auf ihn verlassen kann –
Drauf sprach er: "Ja, ein Polizist ist wie ein Hund
Er bleibt dir treu und zwar aus einem guten Grund:

Die Polizei in ihrer ganzen Blüte
Von der du Schutz und Opfermut verlangst
Schützt dich nicht aus Sympathie oder Güte –
Nur aus Angst, nur aus Angst!
Der Polizist, dem du des Nachts begegnest
Und der dich dich heimführt, falls du etwas schwankst
Tut das nicht weil du ihn lobst oder segnest –
Nur aus Angst, nur aus Angst!

Er hat Angst vor dem Chef
Er hat Angst vor der Nacht
Er hat Angst jemand könnte ihn seh'n!
Er hat Angst vor sich selbst
Seiner Frau, seiner Macht
Er hat Angst vor den eig'nen Ideen –
Und hat Angst, es könnt ohne ihn geh'n!

Die Polizei sitzt heute in der Falle
Sie hilft dir nur, weil du sie dazu zwangst
Aber sonst ist sie genauso wie Alle:
Sie hat Angst, nichts wie Angst!
Und wenn du dich gar für irgendetwas höflich bedankst
Merkst du's gleich – sie hat Angst, sie hat Angst!

Und je älter du wirst
Umso mehr schwitzt du Blut
Und du schlotterst und zitterst und bangst
Und die Angst tut dir weh
Und zur selben Zeit gut
Weil du ihr deinen Posten verdankst –
Und am Schluss kriegst du Angst vor der Angst!

Wenn du dann kämpfst, geschieht's aus lauter Sorgen
Und wenn du siegst und kriegst was du verlangst
Denkst du schon: ,O Gott, mit wem kämpf' ich morgen?'
Und hast Angst, nichts wie Angst!
Jeder Held den du verehrtest und in Liedern besangst
Ist ein Held – so wie ich – nur aus Angst!"