Heinrich Heine
Das Buch Le Grand - Kapitel 41
                                                 Kapitel VII

    Es gibt einen Adler im deutschen Vaterlande, dessen Sonnenlied so gewaltig erklingt, daß es auch hier unten gehört wird und sogar die Nachtigallen aufhorchen, trotz all ihren melodischen Schmerzen. Das bist du, Karl Immermann, und deiner dacht ich gar oft in dem Lande, wovon du so schön gesungen. Wie konnte ich durch Tirol reisen, ohne an das »Trauerspiel« zu denken?

    Nun freilich, ich habe die Dinge in anderer Färbung gesehen; aber ich bewundere doch den Dichter, der aus der Fülle des Gemütes dasjenige, was er nie gesehen hat, der Wirklichkeit so ähnlich schafft. Am meisten ergötzte mich, daß »Das Trauerspiel in Tirol« in Tirol verboten ist. Ich gedachte der Worte, die mir mein Freund Moser schrieb, als er mir meldete, daß der zweite Band der »Reisebilder« verboten sei: »Die Regierung hätte aber das Buch gar nicht zu verbieten brauchen, es wäre dennoch gelesen worden.«

    Zu Innsbruck im goldenen Adler, wo Andreas Hofer logiert hatte und noch jede Ecke mit seinen Bildnissen und Erinnerungen an ihn beklebt ist, fragte ich den Wirt, Herrn Niederkirchner, ob er mir noch viel von dem Sandwirt erzählen könne? Da war der alte Mann überfließend von Redseligkeit und vertraute mir mit klugem Augenzwinkern, daß jetzt die Geschichte auch ganz gedrückt heraus sei, aber auch ganz geheim verboten; und als er mich nach einem dunkeln Stübchen geführt, wo er seine Reliquien aus dem Tiroler Krieg aufbewahrt, wickelte er ein schmutzig blaues Papier von einem schon zerlesenen grünen Büchlein, das ich zu meiner Verwunderung als Immermanns »Trauerspiel in Tirol« erkannte. Ich sagte ihm, nicht ohne errötenden Stolz, der Mann, der es geschrieben, sei mein Freund. Herr Niederkirchner wollte nun soviel als möglich von dem Manne wissen, und ich sagte ihm, es sei ein gedienter Mann, von fester Statur, sehr ehrlich und sehr geschickt in Schreibsachen, so daß er nur wenige seinesgleichen finde. Daß er aber ein Preuße sei, wollte Herr Niederkirchner durchaus nicht glauben und rief mit mitleidigem Lächeln: »Warum nicht gar!« Er ließ sich nicht ausreden, daß der Immermann ein Tiroler sei und den Tiroler Krieg mitgemacht habe, – »wie könnte er sonst alles wissen?«

    Seltsame Grille des Volkes! Es verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Er verlangt nicht den treuen Bericht nackter Tatsachen, sondern jene Tatsachen wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervorgegangen. Das wissen die Dichter, und nicht ohne geheime Schadenlust modeln sie willkürlich die Völkererinnerungen, vielleicht zur Verhöhnung stolztrockner Historiographen und pergamentener Staatsarchivare. Nicht wenig ergötzte es mich, als ich in den Buden des letzten Jahrmarkts die Geschichte des Belisars in grell kolorierten Bildern ausgehängt sah, und zwar nicht nach dem Prokop, sondern ganz treu nach Schenks Tragödie. »So wird die Geschichte verfälscht« – rief der gelahrte Freund, der mich begleitete, – »sie weiß nichts von jener Rache einer beleidigten Gattin, von jenem gefangenen Sohn, von jener liebenden Tochter und dergleichen modernen Herzensgeburten!« Ist denn dies aber wirklich ein Fehler? soll man den Dichtern wegen dieser Fälschung gleich den Prozeß machen? nein, denn ich leugne die Anklage. Die Geschichte wird nicht von den Dichtern verfälscht. Sie geben den Sinn derselben ganz treu, und sei es auch durch selbsterfundene Gestalten und Umstände. Es gibt Völker, denen nur auf diese Dichterart ihre Geschichte überliefert worden, z. B. die Indier. Dennoch geben Gesänge wie der Mahabharata den Sinn indischer Geschichte viel richtiger als irgendein Kompendienschreiber mit all seinen Jahrzahlen. In gleicher Hinsicht möchte ich behaupten, Walter Scotts Romane gäben zuweilen den Geist der englischen Geschichte weit treuer als Hume; wenigstens hat Sartorius sehr recht, wenn er in seinen Nachträgen zu Spittler jene Romane zu den Quellen der englischen Geschichte rechnet.

    Es geht den Dichtern wie den Träumern, die im Schlafe dasjenige innere Gefühl, welches ihre Seele durch wirkliche äußere Ursachen empfindet, gleichsam maskieren, indem sie an die Stelle dieser letzteren ganz andere äußere Ursachen erträumen, die aber insofern ganz adäquat sind, als sie dasselbe Gefühl hervorbringen. So sind auch in Immermanns »Trauerspiel« manche Außendinge ziemlich willkürlich geschaffen, aber der Held selbst, der Gefühlsmittelpunkt, ist identisch geträumt, und wenn diese Traumgestalt selbst träumerisch erscheint, so ist auch dieses der Wahrheit gemäß. Der Baron Hormayr, der hierin der kompetenteste Richter sein kann, hat mich, als ich jüngst das Vergnügen hatte, ihn zu sprechen, auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Das mystische Gemütsleben, die abergläubische Religionsität, das Epische des Mannes hat Immermann ganz richtig angedeutet. Er gab ganz treu jene treue Taube, die, mit dem blanken Schwert im Schnabel, wie die kriegerische Liebe, über den Bergen Tirols so heldenmütig umherschwebte, bis die Kugeln von Mantua ihr treues Herz durchbohrten.

    Was aber dem Dichter am meisten zur Ehre gereicht, ist die ebenso treue Schilderung des Gegners, aus welchem er keinen wütenden Geßler gemacht, um seinen Hofer desto mehr zu heben; wie dieser eine Taube mit dem Schwerte, so ist jenef ein Adler mit dem Ölzweig.