Wilco
Rezension: Wilco - The Whole Love
Kritiker und Fans pflegen manchmal eine seltsame Beziehung zu Künstlern: Oft genug hört man bedauernde Worte darüber, dass ein Künstler seine Dämonen (meist Depressionen und Sucht) überwunden habe, sein Werk jetzt zu entspannt daher komme und sich einfach nicht mit den genial am Abgrund taumelnden vorherigen Werken messen könne. Ähnlich erging es Jeff Tweedy und den letzten Alben seiner Band Wilco, nachdem er seine Medikamentensucht und seine Depressionen besiegt hatte.

Diejenigen, die Wilcos fehlende Experimentierfreude in den letzten Jahren beklagten, werden bei dem überragenden Opener „Art Of Almost“ freudig aufhorchen: Ein unruhiger Beat und sanft pluckernde Elektronik werden von langsam anschwellenden Streichern weggeschwemmt, in die anschließende Stille singt Jeff Tweedy die ersten Zeilen des Albums. Einige Minuten stolpert der Song dann vor sich hin, bevor die Band mit einem befreiend lauten Gitarrensolo Nels Clines das Stück beendet.

Doch um es vorweg zu nehmen: Der Rest des Albums ist weit weniger experimentell und reiht sich durch seine entspannte Grundhaltung nahtlos in den Songreigen von „Sky Blue Sky“ und „Wilco (The Album)“ ein, aber auch hier finden sich bei genauerer Betrachtung einige Besonderheiten, wie z.B. das Stooges-Sample und der herrlich angezerrte Bass in „I Might“ oder die Field Recordings und Kirchenglocken in „Capitol City“.

Ansonsten verstehen es Wilco großartige Melodien in großartige Arrangements zu verpacken, beziehungsweise: tolle Songs zu schreiben. Ein Großteil der Stücke ist dieses mal wieder etwas lauter geraten, trotzdem sind die stärksten Momente des Albums eher die leisen: die Countryballaden „Black Moon“ und „Rising Red Lung“ oder die eindeutige Beatles-Hommage „Sunloathe“. Einzig „Standing O“ und das Titelstück rocken eher mittelmäßig dahin.

Dafür beenden Wilco das Album mit einem ähnlich ambitionierten Stück, wie sie es begonnen haben. „One Sunday Morning (Song For Jane Smiley's Boyfriend)“ erzählt in zwölf Minuten die Geschichte eines Sohnes, der sich von der Fürsorge seines Vaters erdrückt fühlt, sogar Erleichterung über dessen Tod verspürt und sich am Ende doch eingestehen muss: „Bless my mind I miss being told how to live. What I learned without knowing how much more I owe than I can give.“ Inspiriert ist der Song von einem Gespräch Jeff Tweedys mit dem Lebenspartner der Pulitzer-Preis-Trägerin Jane Smiley. Hier und in Stücken wie „Sunloathe“ zeigt sich auch, dass Jeff Tweedys Dämonen nicht verschwunden sind, vielleicht hat er nur gelernt mit ihnen zu leben („Sadness is my luxury“). Und das gönnen wir ihm. Von ganzem Herzen.