Reinhard Mey
Frei!
Die Tür aus gold‘nem Draht steht unverschlossen
Nur einen Augenblick, doch lang genug
Das Fenster, achtlos angelehnt, knarrt leise
Und öffnet einen Spaltbreit sich im Zug
Das ist die grosse, langersehnte Chance
Sie kommt nur einmal, jedes siebte Jahr:
Der Käfig offen und zugleich das Fenster
Ergreife sie im Flug, jetzt nimm sie wahr!
Den Kopf tief eingezogen ins Gefieder
Ein Zögern, dann ein rascher Flügelschlag
Um aufzusteigen aus der dunklen Stube
Hoch in den gleissend hellen Vormittag

Frei, frei, frei!
Endlich frei!
Der Gefangenschaft entflohen
Alles and‘re einerlei
Du bist frei, frei, frei
Endlich frei!

Du, das Symbol der Freiheit, eingeschlossen
Die Welt auf zwei Spannweiten eingeengt
Das eig‘ne Bild als einzigen Gefährten
Im Spiegel, der an einem Kettchen hängt
Nur ein Bewegungsablauf immer wieder
Bis zur Verzweiflung, stumpfsinnig gemacht
Ein Tuch, über das Drahtgeflecht geworfen
Bestimmt, ob für dich Tag ist oder Nacht
Manchmal flatterten Schatten vor dem Fenster
Da war ein Zanken, Zetern und Getos‘
Das Rascheln und das Singen ihrer Schwingen -
Wie beneidetest du sie um ihr Los!
Frei, frei, frei!
Endlich frei!
Der Gefangenschaft entflohen
Alles and‘re einerlei
Du bist frei, frei, frei
Endlich frei!

Du ziehst am klaren Himmel deine Kreise
Den Wind unter den Flügeln wie im Rausch
Ein eis‘ger Hauch statt der vertrauten Wärme
Verlor‘n, verirrt und doch ein guter Tausch!
Du wirst dein Valparaiso nicht finden
Nur Neid und Zank um deine Federpracht
Um ein paar Krumen aus dem Abfall streiten
Um eine Mauernische heute nacht
Du wirst nicht lang hier draussen bleiben können
Von Hunger und von Kälte ausgezehrt
Du wirst dein Valparaiso nicht finden
Doch jeder Flügelschlag dahin war‘s wert!

Du bist frei!
Endlich frei!
Der Gefangenschaft entflohen
Alles and‘re einerlei
Du bist frei, frei, frei
Endlich frei!