Julia Engelmann
Hundert große Kinder
Draußen auf dem Schulhof toben 100 Kinder, in der großen Pause und sind richtig laut.
Ich sitz' hier am Schreibtisch, drinnen in der Firma, träume von zu Hause, schau' zu ihnen raus.
Sie brüllen und schreien, springen über Seile, fallen hin, weinen, stehen wieder auf.
Sie sammeln Steine, spielen sich Streiche, sind bunt gekleidet, trinken Kakao.
Sie singen Lieder, rennen um die Wette, trinken vom Regen, atmen den Wind.
Sie spielen fliegen, fangen, verstecken, Ball ohne Regeln, Mutter und Kind.
Sie halten Händchen, staunen über Märchen, hüpfen auf Kästchen, brauchen kein Geld.
Kichern und quengeln, wühlen in der Erde, ohne zu denken sind sie sie selbst.
Sie glauben an Elfen, glauben den Eltern und an Gespenster, glauben an Gott.
Fühlen sich geborgen, planen kein morgen, haben keine Sorgen.
Oder doch?
Doch!
Denn Kind Nummer 101 steht abseits in der Ecke und weint.
Wär' gerne erwachsen, fühlt sich allein'.
Jung sein ist nämlich nicht immer nur leicht.

Drinnen in der Firma sitzen 100 Schlipse, starren auf den Bildschirm, tragen alle grau.
Wir haben krumme Rücken, tauschen dunkle Blicke, schielen auf die Fitbits, keiner hier ist laut.
Wir warten auf die Pause, warten auf den Urlaub, warten auf das Leben, warten aufs' Gehalt.
Haben Angst vorm krank sein, haben Angst vor Falten, haben Angst vor Zucker, haben Angst vor Zeit.
Wir sind nie zufrieden, wir sind immer skeptisch, neidisch, kritisch depri, unruhig und gestresst.
Rauchen, trinken, essen, Kaffee, Handy, Netflix, wollen uns vergessen, wollen gerne weg.
Wir reden übers' Wetter, reden über andere, übers effizient sein, reden übers Geld.
Wir glauben an Zahlen, Macht, Erfolg und Leistung, Schönheit und Pilates. Nur nicht an uns selbst.

Und draußen auf dem Schulhof toben 100 Kinder, in der großen Pause, schwelgen in Magie.
Ich sitz' hier am Schreibtisch, frag' mich was passiert ist, schließlich war ich früher auch mal so wie sie.
2 x 3 macht 4 widdewiddewid das ist nicht richtig.
Ich kann nicht so tun widdewiddewid als ob das stimmt.
Denn ich bin nicht mehr 5, 5, 5,
auch wenn ich mir das wünsch, wünsch, wünsch.
Ich kann nicht mehr zurück, rück, rück.
Ich werd nie wieder Kind, Kind, Kind.
Ist das denn so schlimm, schlimm, schlimm?

Draußen auf dem Schulhof stehen 100 Eltern, kommen von der Arbeit, warten auf ihr Kind.
Herzliche Umarmung, lachende Gesichter und was gerade noch schlimm war, hat jetzt einen Sinn.
Denn ich kann jetzt sehen, dass alles seine Zeit hat.
Was wir ihnen geben, lebt in ihnen weiter.
Wir machen ihnen Essen, sie machen uns Hoffnung.
Wir flechten ihnen Zöpfe, sie sind Pippi Langstrumpf.
Wir geben ihnen Freiheit, sie leben sie aus.
Wir sind für sie leise, sie sind für uns laut.
Wir zeigen ihnen Grenzen, Wegweiser und Spiele, wir sind Unterstützer, sie sind unsere Spiegel.
Sie machen uns besser, wir sind für sie da.
Sind sie nass vom Wetter, trocknen wir sie ab.
Sie suchen sich Ziele, wir bringen sie hin.
Wir geben ihnen Liebe, sie geben uns Sinn.
Wir lernen von einander, bilden eine Welt.
Müssen sie beschützen, so wie auch uns selbst.

So hat der Lauf der Dinge vielleicht auch einen Grund.
Sind wir gut zu ihnen, sind sie gut zu uns.
Auch jeder Mufasa war einmal ein Simba.
Und in der Firma sitzen quasi 100 große Kinder.
Ich muss plötzlich lächeln.
Alle werden älter.
Und draußen auf dem Schulhof toben 100 kleine Eltern.