Julia Engelmann
DIe Ballade vom König
Ich zeig dir einen Ort,
undenklich und geheim.
Keiner war je dort,
hier wohne ich allein.
Jedes Stück ist mein
unauffindbares Zuhaus,
niemand kann herein,
und ich kann niemals raus:

Hinterm bronzenen Gatter,
das schon grün ist vom Wetter
und durchflochten von Blättern,
zwischen Büschen und zwei
Angolalöwen aus Stein,
am Seerosenzierteich und
Springbrunnen vorbei,
liegt ganz versteckt
hinter Zederngewächs,
erste links und dann rechts,
am Schuss der japanischen Kirschbaumallee
es säumen Agaven und Wildkraut den Weg
meines einsamen Schlosses Entree.

Wo andere Apartments
nur ein Buchsbaumbeet haben,
steht bei mir eine Kore
aus naxischem Marmor
auf 'ner Bernsteinempore
im vorderen Garten.
Wo in anderen Garagen
nur drei Fahrräder parken,
steht bei mir eine Kutsche
mit zehn Schimmelstuten
in der Rosenquarzeinfahrt,
meine Abfahrt erwartend.
Rund um den Palast
haben Wasser und Land,
wie 'ne Umlaufbahn fast,
bis zum Horizont Platz.
Die Mauern sind weiß
und von Efeu berankt,
hier reichen sich Pfauen
und Schwäne die Hand.
Und der Schlosshund schleicht
gerade am Glashaus entlang,
das leuchtet orange
durch den Sonnenuntergang.

Ein eiserner Türklopfer
in der Form eines Tierkopfes
ziert meine hölzerne Pforte.
Nur ein Windhauch genügt,
bis die Klinke nachgibt
und sich unter leisem Quietschen
diese Schwingtür aufschiebt.
Während sie sich wie ein
Diener zur Seite verneigt,
wird der der Blick auf das
lilane Vorzimmer frei
und auf mein Konterfei
fein gemeißelt in Stein.
Und ein Bonsai steht nice
auf dem heiligen Schrein.
Herein!

Was ein Prunk, was ein Duft,
diese Wucht, ein Genuss!
Perlmutterne Putten und funkelnder Stuck,
so viel Schmuck, und die Kunst!
Da "Der Schrei", da "Der Kuss"!
Hier trifft Lust auf Vernunft,
so ein Bilder-Book-Look!

Hier lebe -
ich bin ein allmächtiger König.
Ich habe von allem zu viel,
aber davon zu wenig.
Bin seit Jahren schon satt,
habe unstillbaren hunger.
Meine Schatzkammer platzt fast
vor Silber und Zunder.
Ich habe neunundneunzig Taler,
doch ich hätte lieber hundert.

My castle is my candy shop,
my Zepter is my lollipop,
my throne is on the rooftop of my block.
Ich bin der Wettergott,
der Sternekoch, der Lanzelot,
der Sherlock hier am Wärmetopf.
Ich Krempel meine Ärmel hoch,
habe Kälteschocks nie gern gemocht.
Wie Songs 'ner Playlist
skippe ich Donner und Blitze,
zieh auf dem Display - dem Himmel -
dann die Sonne zur Mitte,
swipe Wolken nach links,
was wie Golfen fast ist.
Daran erfreut sich das Licht
und erleuchtet auch mich.
Meine Krone aus Gold - vierundzwanzig Karat -
trag ich mit Stolz auf rapunzelnem Haar.
Zum Frühstück gibt's Lilien und Lorbeersalat,
und nachmittags spiele ich Mondscheinsonaten-
passagen in Moll, meiner Lieblingstonart.

Und wenn ich am späten Abend,
meine Purpurmantel tragend,
mit Fontänen und Trompeten
aus dem Anwesen hinaus
in den Garten trete,
salutiert vor mir der Rasen,
leuchtet's Schloss in allen Farben,
regnet's Rosen und Raketen,
und die grauen Fasern schweben
aus der Raufasertapete!
Was kann es Schöneres gebe?
Ich liebe dieses Leben!
Es entstehen erst Probleme,
wenn ich Anwesende zähle:
Eins...
Eins?
Eins.

Hier stehe -
ich bin ein einsamer König.
Ich bin unendlich reich,
und das nützt mir so wenig.
Kein Gast kann herein,
mein Olymp ist ein Käfig.
Was nützt Gold und Zeit?
Wo Licht, ist Schatten auch nicht weit.

Ud so tanz ich allein auf dem Marmorbalkon -
aus dem Grammofon knistert ein tristes Chanson -
im Kronleuchtermondschein und weine dabei.
Will ich echt König sein? Was hab ich davon?

Und ich tanze allein ein abstraktes Ballett,
Pirouetten, Plies, Palisanderparkett.
Ich lache kokett meinem Ebenbild zu,
das spiegelt sich länglich im Silberbesteck.

Und ich tanze allein, fülle die Fläche komplett,
bin Alleinunterhalter im Glitzerjackett,
stehe allein in der Ecke und spreche zu mir selbst,
dem einzigen, einsamsten Mensch auf der Welt.

Ich bin mein einziger Freund
und mein einziger Feind.
Bin Homer, bin Zeus,
bin der Herrscher, bin das Volk,
krieg den Hals niemals voll.
Ich bin ziemlich bescheide,
ich finde mich toll,
uns ich kann mich nicht leiden,
kann mich über alles freuen,
ich kann über alles weinen.
Ich will immer alles neu,
aber alles soll so bleiben.

Ich habe alle Schlüssel,
ich bewege alle Zeiger.
Ich trete auf der Stelle,
und ich gehe immer weiter.
Ich bin Zukunft und Vergangenheit,
bin Lehrer und bin Meister.
Ich bin alles Irdische,
ich bin alle Geister.
Hier bin ich gefangen,
hier bin ich daheim.
Ich bin alles in einem,
bin zerrissen, entzweit.

Ach!

Ich bin wahnsinnig,
und zwar wahnsinnig lethargisch!
Ich bin Consourci,
ich werde zunehmend apathisch!
Ich ertrage das nicht,
wart seit Jahren auf die Katharsis!
Bin phlegmatisch, zu dramatisch
und mir selber unsympathisch!

Ich flätze auf der Couch,
wo ich Fusselburgen bau,
male Muster in den Staub,
gähne lang, seufze laut.
Mein Leben ist so mau
wie der Rerun von Full House.
Ich bin ein trauriger Clown
in einem traurigen Haus.

Ich versteck mich unterm Thron
vor dem Überangebot.
Mich setzt das unter Druck,
der Palast ist viel zu groß.
Die Decken sind so hoch.
Das geht gar nicht zu Fuß
und auch nicht mit Teleskop.
Hab das alles schon versucht.
Ich lebe einen Fluch,
nie bin ich gut genug.
Ich zieh die Samtvorhänge zu!

So ein Morgenspaziergang
dauert hier mindestens vier Tage.
Die Treppen sind so lang,
dass ich Knieprobleme habe.
Alles schlägt mir auf den Magen,
bin zu müde, um zu schlafe.
Das ist alles eine Phase,
die ich von Geburt an habe.

Ich sehe von hier aus sogar das Obst
an den Bäumen verrotten.
Wie soll ich allein bloß
all die Speisen verkosten?
Früher hab ich noch mit
Windmühlen gefochten.
Jetzt lasse ich mein Schwert
mitsamt Rüstung verrosten.

Der Himmel ist so düster,
weil ich mich nicht mehr kümmere.
Aber soll es doch gewittern,
oder soll ich doch erfrieren!
Ja, na und? Ich bin verbittert.
Wohin mit den Gefühlen?
Ich kann sie nicht mehr spüren.
Es muss irgendwas passieren!

Raus!

Draußen entsattle ich all meine Pferde,
sie traben entlastet, gelöst in die Ferne.
Ich lass den Schlosshund seinen Lauf,
mach das Schwanengehege auf.
Alle blauen Pfaue
und alle Atome strömen raus.

Drinnen öffne ich die Türen,
alle Wasserhähne auch,
schraube jede Konfitüre-,
jede Sirupflasche auf,
lass den Sturm durch alle Fenster rein,
sodass alles in Bewegung bleibt.
Nicht soll mehr gefangen
und ich soll nicht länger König sein!

Zu guter Letzt steig ich gefasst
in die Schatzkammer hinab,
breche die Kronenzacken ab,
stell die Stromverbindung ab,
und verbrenne all den Zaster.
Schließlich lodert der Palast.
Es knistert, nein, es prasselt,
in ergreifendster Pracht,
in den epochalsten Farben.
Chor, Crescendo und Fanfaren
untermalen meinen Wahnsinn.
Was für ein Finale!

Weg!

Und dann renne ich allein über den Marmorbalkon,
durch Flure zum lilanen Eingangssalon.
Letzter Blick noch auf Bonsai und Steinkonterfei,
ein Kuss für den Kuss und ein Schrei für den Schrei.

Ich renne wie in Trance aus dem Flur in die Nacht.
Die Schwingtür zerschellt, als sie heftig ins Schloss kracht.
Dem Tierkopftürklopfer fällt dramatisch der Kopf ab.
Rosenquarz knarzt hart unter meinen Schritten.

Ich renne ins Schwarze, angefeuert vom Gewitter,
die Kore zerbirst, just von Blitzen gerissen.
Ich blicke nicht zurück, Urknall, Feuer hinterm Rücken,
verlasse meine Einfahrt und erreiche bald die Büsche.

Weiter!

Ich trete Agaven und Wildkräuter platt,
breche japanische Kirschzweige ab.
Tränen benetzten mein heißes Gesicht.
Gleich bin ich da,ich bezweifle es nicht,
schubs die Löwen aus Stein
in den Seerosenteich.
Ich schluchze, ich keuche.
Da! Fast geschafft!
Ich öffne das Gatter
mit zitternder Hand.
Und dann trete ich raus.
Und dann atme ich ein,
fall auf die Knie.
Und ich weiß,
ich bin
frei.

Hier knie -
ich bin ein gebrochener König.
Mein Schloss ist die Asche
und ich bin der Phönix.
Das, was mir bleibt,
ist ein Haufen aus Staub.
Ich bin alleine, bin eins,
bin endlich hier raus.

Wohin?

Ich renn zum Horizont
auf der Suche nach dem Ausgang.
Doch ich finde kein Tür,
kein da draußen, keine Hauswand.
Dann ist es also wahr,
dass auch ein König hier nicht rauskann?
Ich kann hier gar nicht flüchten.
Wofür der ganze Aufwand?

Eben war ich noch erleichtert.
Aber jetzt befallen mich Zweifel,
ob ich niemals oder immer
ganz gefangen oder frei war.
Ich seh, wie ein Pfau
in die Ferne entflattert,
doch kehre zurück
zu dem bronzenen Gatter.
Die Luft und die Farben
sind seltsam vertraut.
Hier war es, hier ist es,
mein wahres Zuhaus!

Da capo al fine.