Julia Engelmann
Selfie
War nicht van Gogh nur ein wirrer, verwirrter
Narzisst auf 'nem Instagram-Selfie mit Filter?
War nicht auch Dürer ein Photobooth-Nutzer
mit Hang, sich in düstere Ecken zu kuscheln?
War nicht Picasso ein Malkasten-Lover
mit Absicht, sein eigenes Abbild zu covern,
ein Beauty-OP-Prophet im Grunde,
und hat er nicht eigentlich Face Swap erfunden?

Sind Smartphones nicht leichtere Kreidetafeln,
die uns Kreiderückstände und Seife ersparen?
Und sagte nicht schon das Orakel von Delphi:
"Erkenne dich selbst" aka "Mach ein Selfie"?

Ist das der gemeinsame Nenner der Menschen,
die Sehnsucht, das eigene Selbst zu erkennen?
Ich tauche in mein Abbild und suche den Grund.
Ein Klick auf den Touchscreen, und schon bin ich Kunst!

Ich bin flüchtig.
'ne Skizze in eile gekritzelt in Kreide.
Beim zeichnenden Streifen der Handrückseite
ist leider mein eigener Umriss verwischt.

Ich bin ungenau.
Ein uraltes Foto mit fransigen Kanten,
der Glanz verkratzt, die Farben verblasst.
Was hat sich der Künstler bloß dabei gedacht?
Ich bin unklar.
Mal heller, mal dunkler, mal grauer, mal bunter.
ein nebliger Turner, bei dem man sich wundert:
Geht die Sonne jetzt auf oder unter?

Ich bin unfertig.
Ein unüberlegt hingeschmiertes Porträt,
vom Künstler verschämt in die Ecke gelegt.
vom Kurator, vom Kenner, vom Kunden verschmäht.

Ich bin zerrissen.
Vom Schöpfer zerstreut aus dem Fenster geschmissen,
mit Test geklebt und schlechtem Gewissen.
Mein goldener Schnitt hat eindeutig gelitten.

Ich bin vage.
'ne wirre Collage mit mehreren Lagen,
mir fehlt der Fluchtpunkt, mir fehlt die Gerade.
Ich passe in keine Collagenschublade.

Ich bin, wie ihr wart.
Imitat, Plagiat, bin ein Kunstdruckplakat.
War alles schon da, wurde alles gesagt,
mein erster Geburtstag 'ne Art Vernissage.

Ich bin Street-Art.
So wie ich jetzt bin, bin ich nie wieder.
Wenn ich Straßenbahn fahre, Passagen langlatsche,
esse ich Banksy-Bananen von urbanen Fassaden.
Ich bin unperfekt.
Jede Facette steckt noch im Prozess.
Ich habe mich selbst entdeckt, nur die Hälfte gecheckt,
doch ich mag mich schon jetzt, weil ich weiß, ich bin echt.

Ich schaue mich an, komme nicht an mich ran,
mich und mich trennen noch Handy und Hand.
Mich und mich trennen noch Spiegel und Wand.
Ich weiß es, ich bin nicht die Schönste im Land.

Ich schaue mich an, doch begreife mich nicht.
Ich sehe mich dauernd in anderem Licht,
sodass meine Wirkung stark davon abhängt,
in welchem Rahmen ich abhäng.

Wir zeigen und protokollieren uns selbst,
beim Essen, beim Lächeln, in Betten, als Helden,
aus Versehen, aus der Nähe, retuschiert, unverstellt,
und erweitern dabei die Geschichte der Welt.

Ein Kreislauf von Spiegeln, alles kommt wieder,
wie Kleidung und Möbel und Meinungen und Lieder,
getragene Jacken an jüngeren Körpern,
alte Gedanken in neueren Wörtern,
alte Kommoden in bunteren Lichtern,
eure Gefühle in unseren Gesichtern.
War nicht auch Kahlo Tutorial-Star
mit Beauty-Blog und bunten Blumen im Haar?
Und Matisse, hat der nicht nur an FOMO gelitten
und deshalb andauernd Papiere zerschnitten?
War Friedrich nicht auch nur ein Polaroid-Hipster
mit der Leidenschaft, neblige Felsen zu knipsen?
Hat da Vinci nicht auch nur schnell Snapchat gecheckt
und dabe das Lächeln von Mona entdeckt?

Ist das der gemeinsame Nenner der Menschen,
die Suche, das Ich und das Selbst zu erkennen?
Die Suche nach uns und nach unserem Grund?
Ein Klick auf den Touchscreen, und schon sind wir Kunst!
Und sagte nicht schon das Orakel von Delphi:
"Erkenne dich selbst"?
Also mach ich ein Selfie.