Julia Engelmann
Johann Philipp Möller
"Es ist siebzehnsechsundachzig,
meine Liebe ist wack,
das macht nichts, ich geh reisen."
"Allein?"
"Na klar, um frei zu sein!"
"Na fein! Herein, willkommen in Verein!"

Liebe Frau von Stein,
falls Sie sich fragen, was ich habe:
Ich ertrag's nicht weiter,
Carl und seinen Adel zu beraten.
Ich rokokokokkotz,
wenn ich den Kragen weiter trage!
Wenn dieses Hoftheater weitergeht,
Geh ich in Karlsbad baden!

Ich kann den Ruhm und Rummel nicht mehr ab,
ich werd bald wahnsinnig!
Und, Lotte, wenn ich ehrlich bin,
ich bin nicht gerne adelig.
Mir scheint, ich muss, wie Faulkner sagen wird,
jetzt meine Darlings killen.
Dritter Neunter, drei Uhr nachts:
Ich fahre nach Italien!

Ins Land, wo die Zitronen blühen,
wo Lorbeer und Mimosen glühen,
zu Fresken, Marmor, Dom, Ruinen,
um mich wieder wohlzufühlen!
Am Hof bei dem Herzog
zog mir mein Herz so.
Ich bin jetzt siebenunddreißig,
es ist Zeit für mich, nach Rom zu ziehen!
Und ich will auch zum Gardasee!
Ferrara und Neapel sehen,
baden, in 'nem Garten voll Akazien stehen.
Bis die Kutschenfahrt beginnt,
pack ich ein paar Fressalien!
Gott isst vielleicht in Frankreich,
doch macht Gap Year in Italien!

"Schöner stiller Nebelmorgen",
ich bin dann mal weg!
Ich hoff, dass in den nächsten Orten
mich keiner erkennt.
"Was ließ ich alles liegen,
den Gedanken auszuführen,
der zu alt in meiner Seele ist!"
Bald sind wir in Trient!

Ich hab im Mantelsack Klamotten
und die kleine goldenen Bibel mit.
Ich schreib dir jede Woche Tagebuch,
bis wir uns wiedersehen.
Das ist, ich sag's dir offen,
streng geheim, den Brief versiegle ich.
XOXO, Charlotte!
Ciao, mit V! PS: Ich liebe dich!
Lotte, wenn du das liest, bin ich über alle Alpen!
Wenn du das liest, bin ich raus aus dem Staub!
Wenn du das liest, suchte ich schon längst das Weite!
Wenn du das liest, wenn du das liest...

...chill ich schon in Rom auf einem Golfplatz und trödle
oder sitz schon in Bologna auf 'ner Holzbank und döse
oder fütter in Verona in 'nem Volkspark die Vögel.
Gezeichnet, dein geliebter Johann -
Johann Philipp Möller

Ja, ich sage: ich heiß Philipp.
und so fang ich neu ab heute an.
Ich sag: Ich bin Kaufmann,
und das kaufen mir die Leute ab.
Ich ändere Daten:
Ich komm jetzt aus Hypezig.
Ich benjaminbuttone.
Ich werd bald erst dreißig.

Was soll da heißen: Midlife-Crisis?
Ich will hier kein Mitleid, Alter!
Darf denn nicht ein mittelalter Mann
in seine Kindheit reisen?
Vater schwärmte von römischer Kunst,
die ich auf Kupfer sah.
Alte Träume aufzulösen
ist ein Rausch, wunderbar!
Liebe Mutter, ich bin freudig
und gesund hier angelangt!
In der Burg in Terni blieb ich heute
gänzlich unerkannt!
Es geht los, ich häute mich
zur Freude meiner Freunde!
Lebst du wohl? Und liebst du mich?
Und schreibst du mir bald Neues?

Und wow, die Natur...
"Ich sah am See sehr lange Binsen."
...ist eine Pracht!
"Der Schnee schmilzt auf den Gipfeln."
Was hat sie nur...
"Mal sehen, ob ich Granit find."
...mit mir gemacht?
"Ich zeichne dir jetzt Disteln."

Mutter, wenn du das liest, bin ich über alle Alpen.
Wenn du das liest, bin ich raus aus dem Staub!
Wenn du das liest, suchte ich schon längst das Weite!
Wenn du das liest, wenn du das liest...

...reste ich in Mailand, fühl mich neu wie ein Phönix,
test ich ein paar Weine - das ist Gold für die Seele!
Wetten, ich fühl Einklang und hab Freude am Schönen?
Gezeichnet, dein geliebter Johann -
Johann Philipp Möller

"Wer reitet spät durch Nacht und Wind?"
Na, mir ist's wie einem Kind!
Ich muss erst wieder leben lernen!
Doch es ist Zeit, ich muss dahin!
Ich denke im Traum,
wie ein Wanderer denkt!
"Ich erkenn mich kaum,
bin ein anderer Mensch."

Ich stell so viel infrage:
was ich tu, was ich gewohnt bin.
Denn wenn "das Werk die
Totenmaske von der Konzeption" ist,
ist's für die, die fertig werden,
eine Katastrophe!
Vielleicht bin ich zum Schauen bestellt,
doch zum Probieren geboren!

Ich erklimme einen Berg,
und der Berg macht mich stärker.
Es gibt so viel zu klären,
und ich klär's gern als Erster.
Und "ein jeder lernt
immer nur, was er lernen kann".
Ihr seid es euch wert,
doch ich bin es mir Werther.

Ich freu mich so auf Rom,
allein der Plan raubt mir den Atem!
Und seit Tagen ist es so,
dass ich schon angezogen schlafe!
Nach drei Dekaden Wartezeit
kann ich nicht länger warten.
Ich fahr schon mal den Wagen vor,
dann können wir gleich fahren!

Jeder Weg führt nach Rom!
Meiner am ersten November!
Kaum begegne ich dir, Rom,
schon hast du mich verändert!
Oh, ich sehe dich, Rom,
mit meinen eigenen Augen!
Ich verehre dich, Rom,
und deine heiligen Mauern!

Die Hauptstadt der Welt!
Du Traum meiner Jugend!
Egal, was du mir erzählst,
o ja, ich werde dir zuhören!
Du bist ein Gedicht!
Das Ende der Suche!
Mir scheint, dass durch dich
mein ganzes Leben beruhigt ist!

"Wie wir einst so glücklich waren!
Müssen jetzt durch" dich erfahren
Ich muss "tausend Griffeln" haben,
eine Feder nützt mir gar nichts!
Vater, wenn du wüsstest!
Vater, Rom entzückt mich!
Vater, ich bin glücklich!
Vater, ich vermiss dich!

Lieber Herder! Es ist herrlich hier!
Wie geht's? Mir gut, ich staune!
Und mein überfüllter Geist
verehrt Palladios Erbautes.
Ich genieße und studiere,
bin gelegentlich auch traurig,
meine süße Bürde heißt hier
"Iphigenie auf Tauris".

Seit ich so weit von Weimar weg bin,
mag ich nur noch Feigen essen,
und der Staatsminister in mir
parkt in der Geheimratsecke.
Wenn ich müde grüble,
so 'ne Reise ist ein Work-out,
denke ich: Diese Gefühle
kommen vermutlich von meinem -
äh Lebensdurst.

Doch es ist alles, wie ich dachte,
und tatsächlich: Es ist alles neu!
Gärten, Wildnis, Häuschen, Ställe,
Bildnisse aus Gips und Holz!
Säulen, Fernen, Engen,
so lebendig, ich sehe alles live!
Erfolgreicher war keine und wird keine
Collab eines Volks!

Mit den Leuten, die mir täglich begegnen,
auf Märkten und Plätzen,
führ ich ewig Gespräche,
so, als ob wir uns kennen.
Vergesse Heimat und Nebel,
wenn ich mich am Wetter,
an Gemälden, Gesängen
und Palästen ergötze.

Hier ist es nicht wie in der Stadt
der Dichter und Banker:
"Die Männer lenken das Land,
doch die Frauen lenken die Männer."
Ich wohne am Corso
in Tischbeins Vierer-WG.
Mir fehlen fast die Worte,
wie viel sich bewegt!

Ist sie nicht fett?
Meine neue Geburtsstadt!
Ich zähle ab jetzt
einen zweiten Geburtstag!
Ich werde mich hier die nächsten Tage
richtig frei ins Leben wagen,
vielleicht auch ein paar Mädchen sehen,
vielleicht werde ich Gretchen fragen.

Costanza hast ich gestern
zu Besuch, die superhübsch ist.
Sie will 'nen Fächer und am besten
mein verfluchtes zweites Kissen.
Das ist gut für meine Lyrik,
aber schlecht für mein Gewissen:
Ich fühl mich guilty wegen Lotte,
doch ich will Costanza küssen.

Denn ich fühle Amore in Roma!
Und den Vibe eines Bond-Songs,
Glüh, Empore, in Rosa!
Und ich schreib am Balkon von
Karl Phillip Moritz!
Elegien voller Strophen,
vielleicht druckt's ja "Die Horen".
O Gott, mein Life ist 'ne Rom-Com!

Herder, wenn du das liest, bin ich über alle Alpen!
Wenn du das liest, bin ich raus aus dem Staub!
Wenn du das liest, suchte ich schon längst das Weite!
Wenn du das liest, wenn du das liest...

...lausche ich hier am Petersdom den Windstößen,
guck, der Himmel glimmt rötlich,
fühl mich Kind, höchstens Teenie.
Seit der Nacht in Venedig
bin ich wach wie Dornröschen!
Ein fröhliches Prösterchen, Stößchen,
dein -
Philipp

Italientrip Epoche eins, das hak ich ab,
was ich zufrieden stimmt!
Ich hab für die nächsten Wochen gut gepackt
und auch die Bibel mit!
Wir fahren eine Nachtschicht,
weil vor uns so viele Ziele sind!
Es ist Februar '87:
Bye, bye, Rom, hallo, Sizilien!

Liebe Lotte, hier seit Ewigkeiten
wieder mal ein Lebenszeichen.
Ich hab dir ein Blatt beschrieben
und den Kochelsee gezeichnet.
Ich wollte dich früher briefen,
doch du weißt ja, dass viel los ist!
Da waren Geister, die mich riefen,
doch ich wollte dich nicht ghosten!

Mehr noch als dein Zettel schmerzt mich nur,
dass ich dir wehgetan hab.
Denn dich zu vergessen wär absurd,
ich denke jeden Tag an dich:
müde, jede Stunde, im Getümmel,
Sommer, Winter,
ich "mag meiner Liebe zu dir Formen geben,
immer, immer".

Auch wenn zwischen uns zu viel Distanz ist -
denn das find ich auch -
bin ich hier glücklich, weil ich hier ganz bin,
drum gib mich nicht auf!
2011 wird mal ein Mann singen
"Depth Over Distance", Charlotte,
oh, ich wünschte, ich könnte dich ansehen.

Oder tanzen wir?
Du in deinem Traum und ich in meinem?
Ich hab heute Nacht geträumt,
wie sehr wir beide uns entweichen.
Oder gehen wir ins Unendliche?
Wie's geht? Ich kann's dir zeigen:
Wir schreiten dann im Endlichen
zu zweit zu allen Seiten.

Denn "Das Leben ist kurz",
ob in Rom oder Frankfurt.
Wir bewegen uns vor,
wie im Flow einer Sanduhr!
Ich hab Tränen verloren!
Ich hab Mut, ich hab Angst!
Ich werd täglich geboren!
Ich muss los! Ich muss ankommen!

Weißt du, ich mache hier
grad die Erfahrung meines Lebens!
Ich versucht, so viele
meiner Fragen zu verstehen!
Ich kann von mir,
wenn ich mehr habe, auch mehr geben!
Doch ich häng an dir,
"mit jeder Faser meines Wesens"!

Lotte, wenn du das liest, bin ich über alle Alpen!
Wenn du das liest, bin ich raus aus dem Staub!
Wenn du das liest, suchte ich schon längst das Weite!
Wenn du das liest, wenn du das liest...

...bin ich noch ein letztes Mal
zum Volkstanz und Klönen!
Habe ich dich im Gedächtnis
als dein Freund,
weil's so schön ist!
Und du auch, liebe Lotte,
noch mehr folgt dann persönlich!
Gezeichnet, dein geliebter Johann -