Katharina, die Witwe von Boas
Sitzt am Fenster des Cafes
Und stochert lustlos
Mit ihrer Kuchengabel
Im Sahnebaiser
Schon Viertel nach drei
Und es ist nichts passiert
Sie blickt verloren auf
Ein knutschendes Pärchen
Und möchte es am liebsten küssen
Ihm die Augen auskratzen
Es aufreißen mit ihren Nägeln
Und ihm am liebsten zuflüstern:
"Knutschen
Das hab' ich auch gemacht
Ich war achtzehn
Und wunderschön
Und sie machten mir den Hof:
Gute Kerle, reiche Kerle
Dichter, Politiker
Und da war auch —
Wie heißt er noch?
Er hatte ein Muttermal
Und er hat mich gefragt
Ob ich ihn heiraten wollte
Und es regnete
Und wir standen
Uns gegenüber
Am Bahnhof
Und er hob mich hoch
Und er wirbelte mich herum
Und er küßte mich auf die Stirn
Nein, ich wurde nicht seine Frau;
Er hatte nur Flausen im Kopf
Er nannte sie Ideale
Ich wurde die Frau von Boas
Sie kennen ihn bestimmt:
Beton, Stahl
Häuser, Ländereien ...
Er war sehr lieb
Zu den Kindern."
Katharina, die Witwe von Boas
Ihre überflüssige Gesichtshaut
Wurde ihr kunstvoll hinter
Den Ohren
Zusammengezogen;
Sie ist weit über vierzig
Ihre Kontaktlinsen
Schwimmen in Mascara
Und durch ihre durchsichtige Bluse
Sieht man in der Ferne
Sich etwas bewegen
Ein strammer junger Mann —
Sein Schwanz wirkt wie draufgemalt-
Geht hüftenschwingend vorbei
Und flüstert hinter seiner Zeitung
Daß er sie gerne
Für einen Hunderter
Verwöhnen würde
Und sie möchte ihm am liebsten
"Hau ab!" sagen
Und sie möchte ihm am liebsten
Zuflüstern:
"Ach Gott, hab' ich doch auch
Gemacht!
Ich war achtzehn und unglaublich
Und sie machten mir den Hof:
Gute Kerle, reiche Kerle
Dichter, Politiker
Jungs wie du
Und da war auch —
Na, wie heißt er noch?
Er hatte ein Muttermal
Und er hat mich gefragt:
" Willst du meine Frau werden?'
Damals ...
Und es regnete
Und wir standen durchnäßt
Beim Bahnhof
Und er hob mich hoch
Und er wirbelte mich herum
Und er fragte mich:
"Willst du meine Frau werden?"
Nein, ich wurde nicht seine Frau
Ich wurde die Frau von Boas
Dem Herrn von allem."
Katharina, die Witwe von Boas
Winkt dem Ober und sagt:
"Das war's für heute!"
Und sie geht zum Nachbartisch
Zieht einen Hunderter
Und sagt:
"Wie wär's mit uns?"