Homer
Odyssee - Kapitel 50
          Also täuscht' er die Gattin mit wahrheitgleicher Erdichtung.
          Aber die horchende Gattin zerfloß in Tränen der Wehmut.
205   Wie der Schnee, den der West auf hohen Bergen gehäuft hat,
          Vor dem schmelzenden Hauche des Morgenwindes                           herabfließt;
          Daß von geschmolzenem Schnee die Ströme den Ufern                     entschwellen:
          Also flossen ihr Tränen die schönen Wangen herunter,
          Da sie den nahen Gemahl beweinete. Aber Odysseus
210    Fühlt' im innersten Herzen den Gram der weinenden Gattin;
          Dennoch standen die Augen wie Horn ihm, oder wie Eisen,
          Unbewegt in den Wimpern; denn klüglich hemmt' er die                     Träne.
          Und nachdem sie ihr Herz mit vielen Tränen erleichtert,
          Da begann sie von neuem, und gab ihm dieses zur Antwort:

215      Nun ich muß dich doch ein wenig prüfen, o Fremdling,
          Ob du meinen Gemahl auch wirklich, wie du erzählest,
          Samt den edlen Genossen in deinem Hause bewirtet.
          Sage mir denn, mit welcherlei Kleidern war er bekleidet?
          Und wie sah er aus? Auch nenne mir seine Begleiter.

220     Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Schwer, o Königin, ist es, nach seiner langen Entfernung
          Ihn so genau zu beschreiben; wir sind schon im zwanzigsten             Jahre,
          Seit er von dannen zog aus meiner heimischen Insel.
          Dennoch will ich dir sagen, so viel mein Geist sich erinnert.

225   Einen zottichten schönen gefütterten Mantel von Purpur
          Trug der edle Odysseus, mit einer zwiefachgeschloßnen
          Goldenen Spange daran, und vorn gezieret mit Stickwerk.
          Zwischen den Vorderklauen des gierigblickenden Hundes
          Zappelt' ein fleckichtes Rehchen; und alle sahn mit                             Bewundrung,
230   Wie, aus Golde gebildet, der Hund an der Gurgel das Rehkalb
          Hielt, und das ringende Reh zu entfliehn mit den Füßen sich               sträubte.
          Unter dem Mantel bemerkt' ich den wunderköstlichen                       Leibrock:
          Zart und weich, wie die Schale von einer getrockneten                       Zwiebel,
          War das feine Geweb', und glänzendweiß, wie die Sonne.
235   Wahrlich viele Weiber betrachteten ihn mit Entzücken.
          Eines sag' ich dir noch, und du nimm solches zu Herzen!
          Sicher weiß ich es nicht: ob Odysseus die Kleider daheim                   trug;
          Oder ob sie ein Freund ihm mit zu Schiffe gegeben,
          Oder irgend ein Fremdling, der ihn bewirtet. Denn viele
240   Waren Odysseus hold, ihm glichen wenig Achaier.
          Ich auch schenkt' ihm ein ehernes Schwert, ein gefüttertes                 schönes
          Purpurfarbnes Gewand, und einen passenden Leibrock,
          Und entließ ihn mit Ehren zum schöngebordeten Schiffe.
          Endlich folgte dem Helden ein etwas älterer Herold
245   Nach; auch dessen Gestalt will ich dir jetzo beschreiben.
          Bucklicht war er, und schwarz sein Gesicht, und lockicht sein           Haupthaar;
          Und Eurybates hieß er; Odysseus schätzte vor allen
          Übrigen Freunden ihn hoch, denn er suchte sein Bestes mit               Klugheit.
            Also sprach er; da hub sie noch heftiger an zu weinen,

250   Als sie die Zeichen erkannte, die ihr Odysseus beschrieben.
          Und nachdem sie ihr Herz mit vielen Tränen erleichtert,
          Da begann sie von neuem, und gab ihm dieses zur Antwort:

            Nun du sollst mir, o Fremdling, so jammervoll du vorhin                   warst,
          Jetzo in meinem Haus auch Lieb' und Ehre genießen!

255   Denn ich selber gab ihm die Kleider, wovon du erzählest,
          Wohlgefügt aus der Kammer, und setzte die goldene Spange
          Ihm zur Zierde daran. Doch niemals werd' ich ihn wieder
          Hier im Hause begrüßen, wann er zur Heimat zurückkehrt!
          Zur unseligen Stund' einschiffte mein trauter Odysseus,
260   Troja zu sehn, die verwünschte, die keiner nennet ohn'                       Abscheu!

            Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,
          Schone der holden Gestalt und deines Lebens, und jammre
          Um den Gemahl nicht länger! Zwar tadeln kann ich den                     Schmerz nicht:

265   Denn es weint wohl jegliche Frau, die den Gatten verloren,
          Ihrer Jugend Gemahl, mit dem sie Kinder gezeugt hat;
          Und von Odysseus sagt man, er sei den Unsterblichen                       ähnlich.
          Aber mäßige dich, und höre, was ich dir sage:
          Denn ich will dir die Wahrheit verkünden, und nichts dir                     verhehlen,
270   Was ich von deines Gemahls Zurückkunft hörte, der jetzo
          Nahe von hier im fetten Gebiet der thesprotischen Männer
          Lebt. Er kehret mit großem und köstlichem Gute zur Heimat,
          Das ihm die Völker geschenkt. Doch seine lieben Gefährten
          Und sein rüstiges Schiff verlor er im stürmenden Meere,
275   Als er Thrinakiens Ufer verließ; denn es zürnten dem Helden
          Zeus und der Sonnengott, des Rinder die Seinen geschlachtet.
          Alle diese versanken im dunkelwogenden Meere.
          Aber er rettete sich auf den Kiel, und trieb mit den Wellen
          An das glückliche Land der götternahen Phäaken.
280   Diese verehrten ihn herzlich, wie einen der seligen Götter,
          Schenkten ihm großes Gut, und wollten ihn unbeschädigt
          Heim gen Ithaka bringen. Dann wäre vermutlich Odysseus
          Lange schon hier; allein ihm schien es ein besserer Anschlag
          Noch durch mehrere Länder zu reisen, und Güter zu                           sammeln:
285   So wie immer Odysseus vor allen Menschen auf Erden
          Wußte, was Vorteil schafft; kein Sterblicher gleicht ihm an                 Weisheit!
          Also sagte mir Pheidon, der edle thesprotische König,
          Dieser beschwur es mir selbst, und beim Trankopfer im                     Hause,
          Segelfertig wäre das Schiff, und bereit die Gefährten,
290   Um ihn heimzusenden in seiner Väter Gefilde.
          Aber mich sandt' er zuvor im Schiffe thesprotischer Männer,
          Welches zum weizenreichen Gefilde Dulichions abfuhr.
          Pheidon zeigte mir auch die gesammelten Güter Odysseus'.
          Noch bis ins zehnte Glied sind seine Kinder versorget:
295   Solch ein unendlicher Schatz lag dort im Hause des Königs!
          Jener war, wie es hieß, nach Dodona gegangen, aus Gottes
          Hochgewipfelter Eiche Kronions Willen zu hören:
          Wie er in Ithaka ihm, nach seiner langen Entfernung,
          Heimzukehren beföhle, ob öffentlich oder verborgen.
300   Also lebt er noch frisch und gesund, und kehret gewiß nun
          Bald zurück; er irrt nicht lange mehr in der Fremde
          Von den Seinigen fern: und das beschwör' ich dir heilig!
          Zeus bezeuge mir das, der höchste und beste der Götter,
          Und Odysseus' heiliger Herd, zu welchem ich fliehe:
305   Daß dies alles gewiß geschehn wird, wie ich verkünde!
          Selbst noch in diesem Jahre wird wiederkehren Odysseus,
          Wann der jetzige Mond abnimmt, und der folgende zunimmt!
             Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:
          Fremdling, erfülleten doch die Götter, was du geweissagt!

310    Dann erkenntest du bald an vielen und großen Geschenken
          Deine Freundin, und jeder Begegnende priese dich selig!
          Aber es ahnet mir schon im Geiste, wie es geschehn wird.
          Weder Odysseus kehrt zur Heimat wieder, noch wirst du
          Jemals weiter gebracht; denn hier sind keine Gebieter,
315    Welche, wie einst der Held Odysseus, da er noch lebte,
          Edle Gäste mit Ehren bewirteten oder entließen.
          Aber ihr Mägde, wascht ihm die Füß', und bereitet sein Lager:
          Bringet ein Bett, und bedeckt es mit Mänteln und prächtigen             Polstern,
          Daß er in warmer Ruhe den goldenen Morgen erwarte.
320   Aber morgen sollt ihr ihn frühe baden und salben,
          Daß er also geschmückt an Telemachos' Seite das Frühmahl
          Hier im Saale genieße. Doch reuen soll es den Freier,
          Der ihn wieder so frech mißhandelt: nicht das Geringste
          Hab' er hier ferner zu schaffen, und zürnt' er noch so                           gewaltig!
325   Denn wie erkenntest du doch, o Fremdling, ob ich an Klugheit
          Und verständigem Herzen vor andern Frauen geschmückt sei,
          Ließ ich dich ungewaschen und schlechtbekleidet im Hause
          Speisen? Es sind ja den Menschen nur wenige Tage                             beschieden.
          Wer nun grausam denkt, und grausame Handlungen ausübt;
330   Diesem wünschen alle, so lang' er lebet, nur Unglück,
          Und noch selbst im Tode wird sein Gedächtnis verabscheut.
          Aber wer edel denkt, und edle Handlungen ausübt;
          Dessen würdigen Ruhm verbreiten die Fremdlinge weithin
          Unter die Menschen auf Erden, und jeder segnet den Guten.
335      Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,
          Ach mir wurden Mäntel und weiche prächtige Polster
          Ganz verhaßt, seitdem ich von Kretas schneeichten Bergen
          Über die Wogen fuhr im langberuderten Schiffe!

340   Laß mich denn diese Nacht so ruhn, wie ich es gewohnt hin:
          Viele schlaflose Nächte hab' ich auf elendem Lager
          Hingebracht, und sehnlich den schönen Morgen erwartet.
          Auch gebeut nicht diesen, mir meine Füße zu waschen;
          Denn ich möchte nicht gern verstatten, daß eine der Mägde,
345   Die im Hause dir dienen, mir meine Füße berühre.
          Wo du nicht etwa sonst eine alte verständige Frau hast,
          Welche so vielen Kummer, als ich, im Leben erduldet:
          Dieser wehr' ich es nicht, mir meine Füße zu waschen.

            Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:

350   Lieber Gast! denn nie ist solch ein verständiger Fremdling,
          Nie ein werterer Gast in meine Wohnung gekommen:
          So verständig und klug ist alles, was du auch sagest!
          Ja, ich hab' eine alte und sehr vernünftige Frau hier,
          Welche die Pflegerin war des unglückseligen Mannes,
355   Und in die Arme ihn nahm, sobald ihn die Mutter geboren:
          Diese wird, so schwach sie auch ist, die Füße dir waschen.
          Auf denn, und wasche den Greis, du redliche Eurykleia!
          Er ist gleiches Alters mit deinem Herrn. Vielleicht sind
          Jetzt Odysseus' Händ' und Füße schon eben so kraftlos.
360   Denn im Unglück altern die armen Sterblichen frühe.

            Also sprach sie. Die Alte verbarg mit den Händen ihr Antlitz,
          Heiße Tränen vergießend, und sprach mit jammernder                       Stimme:

            Wehe mir, wehe, mein Sohn! Ich Verlassene! Also verwarf               dich
          Zeus vor allen Menschen, so gottesfürchtig dein Herz ist?

365   Denn kein Sterblicher hat dem Gotte des Donners so viele
          Fette Lenden verbrannt und erlesene Hekatomben,
          Als du jenem geweiht, im Vertraun, ein ruhiges Alter
          Einst zu erreichen, und selber den edlen Sohn zu erziehen!
          Und nun raubt er dir gänzlich den Tag der fröhlichen                           Heimkehr!
370   Ach! es höhnten vielleicht auch ihn in der Fremde die Weiber,
          Wann er hilfeflehend der Mächtigen Häuser besuchte;
          Eben wie dich, o Fremdling, die Hündinnen alle verhöhnen,
          Deren Schimpf und Spott zu vermeiden du jetzo dich                           weigerst,
          Daß sie die Füße dir waschen. Doch mich, die willig                             gehorchet,
375   Heißt es Ikarios' Tochter, die kluge Penelopeia.
          Und nicht Penelopeiens, auch deinethalben, o Fremdling,
          Wasch' ich dich gern; denn tief im innersten Herzen empfind'           ich
          Mitleid! Aber wohlan, vernimm jetzt, was ich dir sage:
          Unser Haus besuchte schon mancher bekümmerte                             Fremdling;
380   Aber ich habe noch nimmer so etwas Ähnlichs gesehen,
          Als du, an Stimme, Gestalt und Füßen, Odysseus gleichest.

            Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Mutter, so sagen alle, die uns mit Augen gesehen,
          Daß wir beiden, Odysseus und ich, einander besonders

385   Ähnlich sind; wie auch du mit Scharfsinn jetzo bemerkest.

            Also sprach er. Da trug die Alte die schimmernde Wanne
          Zum Fußwaschen herbei: sie goß in die Wanne des Brunnen
          Kaltes Wasser, und mischt' es mit kochendem. Aber                           Odysseus
          Setzte sich neben den Herd, und wandte sich schnell in das               Dunkel;

390   Denn es fiel ihm mit einmal aufs Herz, sie möchte beim                     Waschen
          Seine Narbe bemerken, und sein Geheimnis verraten.
          Jene kam, wusch ihren Herrn, und erkannte die Narbe
          Gleich, die ein Eber ihm einst mit weißem Zahne gehauen,
          Als er an dem Parnaß Autolykos, seiner Mutter
395   Edlen Vater, besucht' und Autolykos' Söhne, des Klügsten
          An Verstellung und Schwur! Hermeias selber gewährt'                        ihm
          Diese Kunst; denn ihm verbrannt' er der Lämmer und Zicklein
          Lenden zum süßen Geruch, und huldreich schirmte der Gott             ihn.

              Dieser Autolykos kam in Ithakas fruchtbares Eiland,

400   Eben da seine Tochter ihm einen Enkel geboren.
          Eurykleia setzte das neugeborene Knäblein,
          Nach dem fröhlichen Mahl, auf die Kniee des Königs, und                   sagte:

            Finde nun selbst den Namen, Autolykos, deinen geliebten
          Tochtersohn zu benennen, den du so herzlich erwünscht                    hast.

405     Und Autolykos sprach zu seinem Eidam und Tochter:
          Liebe Kinder, gebt ihm den Namen, den ich euch sage.
          Vielen Männern und Weibern auf lebenschenkender Erde
          Zürnend, komm' ich zu euch in Ithakas fruchtbares Eiland.
          Darum soll das Knäblein Odysseus, der Zürnende, heißen.

410   Wann er mich einst als Jüngling im mütterlichen Palaste
          Am Parnassos besucht, wo ich meine Güter beherrsche;
          Will ihn reichlich beschenkt und fröhlich wieder entlassen.