Homer
Odyssee - Kapitel 58
330   Aber Terpios' Sohn entrann dem schwarzen Verhängnis,
          Phemios, der bei den Freiern gezwungen wurde zu singen.
          Dieser stand, in den Händen die hellerklingende Harfe,
          Nahe der Seitentür, und sann in zweifelndem Herzen:
          Ob er heimlich entflöh, und an des großen Kronions
335   Schönem Altar auf dem Hofe sich setzte, auf welchem Laertes
          Und Odysseus die Lenden so vieler Stiere geopfert;
          Oder um Mitleid flehend Odysseus zu Füßen sich würfe.
          Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beste,
          Flehend die Kniee zu rühren des göttergleichen Odysseus.
340   Und er setzte zur Erden die schöngewölbete Harfe,
          Zwischen dem großen Kelch und dem silberbeschlagenen                 Sessel;
          Lief dann eilend hinzu, umschlang Odysseus die Kniee,
          Jammerte laut um Erbarmen, und sprach die geflügelten                   Worte:

              Flehend umfass' ich dein Knie; erbarme dich meiner,                       Odysseus!

345    Töte mich nicht! Du würdest hinfort es selber bereuen,
          Wenn du den Sänger erschlügst, der Göttern und Menschen             gesungen!
          Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei Lieder
          Mir in die Seele gepflanzt! Ich verdiene, wie einem der Götter,
          Dir zu singen! Drum haue mir nicht mit dem Schwerte das                 Haupt ab!
350   Siehe dein lieber Sohn Telemachos kann es bezeugen,
          Daß ich nie freiwillig und wegen schnödes Gewinstes
          Kam in deinen Palast, den Freiern am Mahle zu singen;
          Sondern es führten mich viele und Mächtige hier mit Gewalt             her!
              Also sprach er. Ihn hörte Telemachos' heilige Stärke,

355   Eilte hinzu, und sprach zu seinem Vater Odysseus:

              Halt, verwunde nicht diesen; er ist unschuldig, mein Vater!
          Laß uns auch Medon verschonen, den Herold, welcher mich             immer
          Sorgsam in unserem Hause gepflegt hat, als ich ein Kind war;
          Wo ihn Philötios nicht schon tötete, oder Eumäos,

360   Oder du selber ihn trafst, den Saal mit Rache durchstürmend!

              Also sprach er; ihn hörte der gute verständige Medon:
          Unter dem Throne sich schmiegend, vermied er das schwarze           Verhängnis,
          Eingehüllt in die Haut des frischgeschlachteten Rindes.
          Eilend kroch er hervor, und hüllte sich schnell aus der                         Kuhhaut,

365   Sprang zu Telemachos hin, umschlang die Kniee des                           Jünglings,
          Jammerte laut um Erbarmen, und sprach die geflügelten                   Worte:

              Lieber, da bin ich selbst! O schone, und bitte den Vater,
          Daß mich der Wütende nicht mit scharfem Erze vertilge,
          Zürnend wegen der Freier, die alle Güter im Hause

370   Ihm verschwelgten, und dich mit törichtem Herzen                             entehrten!

              Lächelnd erwiderte drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Sei getrost, denn dieser ist dein Beschirmer und Retter:
          Daß du im Herzen erkennst, und andern Menschen                             verkündest,
          Wie viel besser es sei, gerecht als böse zu handeln.
375   Aber geht aus dem Saal, und setzt euch aus dem Gewürge
          Draußen im Hofe, du selbst und der liederkundige Sänger;
          Bis ich alles im Hause vollendet, was mir gebühret.

              Also sprach er. Da gingen sie schnell aus dem blutigen                   Saale,
          Setzten sich draußen im Hof' am Altare des großen Kronions

380   Nieder, und blickten umher, den Tod noch immer erwartend.

              Jetzo schaute Odysseus umher im Saale, ob irgend
          Noch ein Lebender sich dem schwarzen Tode verberge.
          Aber er sahe sie alle, mit Blut und Staube besudelt,
          Weit den Boden bedecken: wie Fische, welche die Fischer

385   Aus dem bläulichen Meer ans hohle Felsengestade
          Im vielmaschichten Netz aufzogen; nun liegen sie, lechzend
          Nach den Fluten des Meers, im dürren Sande verbreitet,
          Und die sengende Hitze der Sonne raubet ihr Leben:
          Also lagen im Saale die Freier Haufen bei Haufen.
390   Und zu Telemachos sprach der erfindungsreiche Odysseus:

              Auf, Telemachos, rufe die Pflegerin Eurykleia;
          Denn ich habe noch was auf dem Herzen, das ich dir sage.

              Sprach's; und Telemachos eilte, wie ihm sein Vater                         befohlen,
          Pocht' an die Tür, und rief der Pflegerin Eurykleia;
395    Eile geschwinde hieher, du alte redliche Mutter,
          Welche die Aufsicht hat der Weiber in unserem Hause!
          Komm! dich ruft mein Vater, er hat dir etwas zu sagen!

              Also sprach er zu ihr, und redete nicht in die Winde.
          Als sie die Pforten geöffnet der schöngebaueten Wohnung,

400   Ging sie hinaus, und folgte Telemachos, welcher sie führte.
          Und sie fanden Odysseus, umringt von erschlagenen Leichen,
          Ganz mit Blut und Staube besudelt, ähnlich dem Löwen,
          Der, vom ermordeten Stiere gesättiget, stolz einhergeht;
          Seine zottichte Brust, und beide Backen des Würgers
405   Triefen von schwarzem Blut, und fürchterlich glühn ihm die               Augen:
          Also war auch Odysseus an Händen und Füßen besudelt.
          Als sie die Toten nun sah und rings die Ströme des Blutes,
          Da frohlockte sie jauchzend; denn schrecklich und groß war             der Anblick.
          Aber Odysseus hielt sie, und zähmt' ihr lautes Entzücken;
410    Und er redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:

              Freue dich, Mutter, im Herzen; doch halte dich, daß du                   nicht frohlockst!
          Über erschlagene Menschen zu jauchzen, ist grausam und                 Sünde!
          Diese vertilgte der Götter Gericht und ihr böses Beginnen:
          Denn sie ehrten ja keinen von allen Erdebewohnern,

415    Vornehm oder geringe, wer auch um Erbarmen sie ansprach.
          Darum traf die Frevler das schreckliche Todesverhängnis.
          Aber nenne mir jetzo die Weiber in dem Palaste,
          Alle, die mich verachten, und die unsträflich geblieben.

              Ihm antwortete drauf die Pflegerin Eurykleia:

420   Gerne will ich dir, Sohn, die lautere Wahrheit verkünden,
          Fünfzig sind der Weiber in deinem hohen Palaste,
          Welche wir alle die Kunst des Webestuhls und der Nadel
          Lehrten, und Wolle zu kämmen, und treu und fleißig zu                     dienen.
          Aber zwölfe verüben die unverschämtesten Greuel,
425   Und verachten mich ganz, ja selber Penelopeia.
          Zwar seit kurzem erwuchs Telemachos; aber die Mutter
          Wollte nimmer gestatten, daß er den Mägden beföhle.
          Jetzo geh' ich hinauf, und bringe deiner Gemahlin
          Botschaft; eben erquickt sie ein Gott mit lieblichem                             Schlummer.

430    Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Wecke sie jetzo noch nicht; laß erst die Weiber des Hauses
          Kommen, welche bisher so viel' Unarten verübten.

              Also sprach er; da ging die Pflegerin aus dem Gemache,
          Brachte des Königs Befehl, und trieb die Mägde zu eilen.

435   Aber Telemachos und die beiden trefflichen Hirten
          Rief er zu sich heran, und sprach die geflügelten Worte:

              Traget jetzo die Toten hinaus, und befehlt es den Weibern;
          Und dann reiniget wieder die zierlichen Sessel und Tische
          Von der Erschlagenen Blute mit angefeuchteten                                  Schwämmen.

440   Aber sobald ihr alles umher im Saale geordnet,
          Führt die Weiber hinaus vor die schöngebauete Wohnung,
          Zwischen das Küchengewölb' und die feste Mauer des Hofes,
          Und erwürgt sie dort mit der Schärfe des Schwertes, bis aller
          Seelen entfliehn, und vergessen der ungebändigten Lüste,
445   Welche sie oft gebüßt, in geheimer Umarmung der Freier.

              Also sprach er; da kamen die Weiber alle bei Haufen
          Lautwehklagend herein und heiße Tränen vergießend.
          Und sie trugen hinaus die abgeschiedenen Toten
          Unter die tönende Halle des festverschlossenen Hofes,

450   Legten übereinander sie hin; es trieb sie Odysseus
          Hurtig zu eilen, und traurig vollendeten jene die Arbeit.
          Hierauf reinigten sie die zierlichen Sessel und Tische
          Von der Erschlagenen Blute mit angefeuchteten                                  Schwämmen.
          Aber Telemachos, der Rinderhirt und der Sauhirt
455   Säuberten eilig mit Schaufeln des schönen gewölbeten Saales
          Estrich; den Unrat trugen die Mägde hinaus vor die Türe.
          Und nachdem sie alles umher im Saale geordnet,
          Führten sie jene hinaus vor die schöngebauete Wohnung
          Zwischen das Küchengewölb' und die feste Mauer des Hofes,
460   Trieben sie dort in die Enge, wo nirgends ein Weg zum                       Entfliehn war.
          Und der verständige Jüngling Telemachos sprach zu den                   Hirten:

              Wahrlich den reinen Tod des Schwertes sollen die Weiber
          Mir nicht sterben, die mich und meine Mutter so lange
          Schmäheten, und mit den Freiern so schändliche Greuel                     verübten!

465     Sprach's; da band er ein Seil des blaugeschnäbelten Schiffes
          An den ragenden Pfeiler, und knüpft es hoch am Gewölbe
          Fest, daß die Hangenden nicht mit den Füßen die Erde                       berührten.
          Und wie die fliegenden Vögel, die Drosseln oder die Tauben,
          In die Schlingen geraten, die im Gebüsche gestellt sind;

470   Müde eilten sie heim, und finden ein trauriges Lager:
          Also hingen sie dort mit den Häuptern nebeneinander,
          Alle die Schling' um den Hals, und starben des kläglichsten               Todes,
          Zappelten noch mit den Füßen ein wenig, aber nicht lange.

            Jetzo holten sie auch den Ziegenhirten Melantheus;

475   Und sie schnitten ihm Nas' und Ohren mit grausamem Erze
          Ab, entrissen und warfen die blutige Scham vor die Hunde,
          Hauten dann Händ' und Füße vom Rumpf mit zürnendem                 Herzen.

              Und nun wuschen sie sich die Händ' und Füße, und gingen
          Wieder hinein zu Odysseus im Saal; und das Werk war                       vollendet.

480   Aber Odysseus sprach zu der Pflegerin Eurykleia:

            Alte, bringe mir Feuer und fluchabwendenden Schwefel,
          Daß ich den Saal durchräuchre. Dann sage Penelopeien,
          Daß sie geschwind herkomme mit ihren begleitenden                         Jungfraun;
          Auch die übrigen Weiber im Hause rufe mir eilig.

485   Ihm antwortete drauf die Pflegerin Eurykleia:
          Gut, mein geliebter Sohn, du hast mit Weisheit geredet,
          Aber ich will dir ein Kleid herbringen, Mantel und Leibrock;
          Daß du nicht, mit den Lumpen die rüstigen Schultern                         umhüllet,
          Hier in dem Saale stehst. Wie häßlich würde das aussehn!

490   Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Erstlich bringe mir Schwefel, und zünde Feuer im Saal an.

              Also sprach er. Da eilte die Pflegerin Eurykleia;
          Und nun brachte sie Feuer und Schwefel. Aber Odysseus
          Räucherte rings im Saal, im Vorhaus und in dem Hofe.

495     Und die Alte stieg aus Odysseus' prächtiger Wohnung,
          Brachte des Königs Befehl, und trieb die Mägde zu eilen.
          Und sie gingen hervor, in den Händen die leuchtende Fackel.
          Jetzo umringten sie alle den wiedergekommenen König,
          Hießen ihn froh willkommen, und küßten ihm Schultern und             Antlitz,

500   Küßten und drückten die Hände mit Inbrunst. Aber Odysseus
          Weint' und schluchzte vor Freude; sein Herz erkannte noch               alle.