Homer
Odyssee - Kapitel 62
190    Ihm antwortete drauf die Seele des großen Atreiden:
          Glücklicher Sohn Laertes, erfindungsreicher Odysseus,
          Wahrlich dir ward ein Weib von großer Tugend beschieden!
          Welche treffliche Seele hat doch Ikarios' Tochter
          Penelopeia! Wie treu die Edle dem Manne der Jugend,
195    Ihrem Odysseus, blieb! O nimmer verschwindet der                             Nachruhm
          Ihrer Tugend; die Götter verewigen unter den Menschen
          Durch den schönsten Gesang die keusche Penelopeia!
          Nicht wie Tyndareos' Tochter verübte sie schändliche Taten,
          Welche den Mann der Jugend erschlug, und ein ewiges                     Schandlied
200   Unter den Sterblichen ist; denn sie hat auf immer der Weiber
          Namen entehrt, wenn eine sich auch des Guten befleißigt!

            Also besprachen sich jetzo die Luftgebilde der Toten,
          Unter der Erde stehend, in Aïdes' dunkler Behausung.

            Jene gingen den Weg von der Stadt hinunter, und kamen

205   Bald zu dem wohlbestellten und schönen Hofe Laertes',
          Welchen er selber vordem durch Heldentaten erworben.
          Allda hatt' er sein Haus; und wirtschaftliche Gebäude
          Liefen rings um den Hof; es speiseten, saßen und schliefen
          Hier die nötigen Knechte, die seine Geschäfte bestellten.
210    Auch war dort eine alte Sikelerin, welche des Greises
          Fern von der Stadt auf dem Lande mit treuer Sorge sich                     annahm.
          Aber Odysseus sprach zu Telemachos und zu den Hirten:
            Geht ihr jetzo hinein in die schöngebauete Wohnung,
          Und bereitet uns schnell zum Mahle das trefflichste                             Mastschwein.

215    Ich will indes hingehen, um unsern Vater zu prüfen:
          Ob er mich wohl noch kennt, wenn seine Augen mich sehen;
          Oder ob ich ihm fremd bin, nach meiner langen Entfernung.

            Also sprach er, und gab den Hirten die kriegrische Rüstung.
          Diese gingen sogleich in die Wohnung. Aber Odysseus

220   Eilte zu seinem Vater im obstbeladenen Fruchthain.
          Und er fand, da er eilig den langen Garten hinabging,
          Weder Dolios dort, noch Dolios' Knechte und Söhne.
          Diese waren aufs Feld gegangen, und sammelten Dornen
          Zu des Gartens Geheg', und der alte Mann war ihr Führer.
225   Nur Laertes fand er im schöngeordneten Fruchthain.
          Um ein Bäumchen die Erd' auflockern. Ein schmutziger                       Leibrock
          Deckt' ihn, geflickt und grob; und seine Schenkel umhüllten
          Gegen die ritzenden Dornen geflickte Stiefeln von Stierhaut;
          Und Handschuhe die Hände der Disteln wegen; die Scheitel
230   Eine Kappe von Ziegenfell: so traurte sein Vater.
          Als er ihn jetzo erblickte, der herrliche Dulder Odysseus,
          Wie er vom Alter entkräftet und tief in der Seele betrübt war;
          Sah er ihm weinend zu im Schatten des ragenden Birnbaums.
          Dann bedacht' er sich hin und her, mit wankendem Vorsatz:
235   Ob er ihn küssend umarmte, den lieben Vater, und alles
          Sagte, wie er nun endlich zur Heimat wiedergekehrt sei;
          Oder ihn erst ausfragte, um seine Seele zu prüfen.
          Dieser Gedanke schien dem Zweifelnden endlich der beste:
          Erst mit sanftem Tadel des Vaters Seele zu prüfen.
240   Dieses beschloß Odysseus, und eilte hin zu Laertes,
          Der, mit gesenktem Haupte, des Baumes Wurzel umhackte;
          Und der treffliche Sohn trat nahe zum Vater, und sagte:
            Alter, es fehlet dir nicht an Kunst den Garten zu bauen!
          Schön ist alles bestellt; kein einziges dieser Gewächse,

245   Keine Rebe vermißt, kein Ölbaum, Feigen- und Birnbaum,
          Keines der Beet' im Garten vermißt die gehörige Pflege!
          Eins erinnre ich nur; nimm mir's nicht übel, o Vater!
          Du wirst selber nicht gut gepflegt! Wie kümmerlich gehst du,
          Schwach vor Alter, und schmutzig dabei, und häßlich                         bekleidet!
250   Wegen der Faulheit gewiß kann dich dein Herr nicht                           versäumen!
          Selbst der Gedank' an Knechtschaft verschwindet einem                   Betrachter
          Deiner Gestalt und Größe; du hast ein königlich Ansehn:
          Gleich als ob dir gebührte, dich nach dem Bad und der                       Mahlzeit
          Sanft zur Ruhe zu legen; denn das ist die Pflege der Alten.
255   Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit:
          Welcher Mann ist dein Herr, und wessen Garten besorgst du?
          Auch verkündige mir aufrichtig, damit ich es wisse:
          Sind wir denn wirklich hier in Ithaka, wie mir ein Mann dort
          Sagte, welchem ich eben begegnete, als ich hieher ging?
260   Aber der Mann war nicht so artig, mir alles zu sagen,
          Oder auf meine Frage zu achten, wegen des Gastfreunds,
          Den ich in Ithaka habe: ob dieser noch lebt und gesund ist;
          Oder ob er schon starb, und zu den Schatten hinabfuhr.
          Denn ich sage dir an; merk auf, und höre die Worte:
265   Einen Mann hab' ich einst im Vaterlande bewirtet,
          Welcher mein Haus besuchte; so viel ich auch Fremde                       beherbergt,
          Ist kein werterer Gast in meine Wohnung gekommen!
          Dieser sagte, er stammt aus Ithakas felsichtem Eiland,
          Und Arkeisios' Sohn Laertes wäre sein Vater.
270   Und ich führte den werten Gast in unsere Wohnung.
          Freundlich bewirtet' ich ihn von des Hauses reichlichem                     Vorrat,
          Und verehrt' ihm Geschenke zum Denkmal unserer                             Freundschaft:
          Schenkt' ihm sieben Talente des künstlichgebildeten Goldes;
          Einen silberner Kelch mit schönerhobenen Blumen;
275   Feiner Teppiche zwölf, und zwölf der einfachen Mäntel;
          Zwölf Leibröcke dazu, mit prächtigen Purpurgewanden;
          Über dieses schenkt' ich ihm vier untadliche Jungfraun,
          Kunstverständig und schön, die er sich selber gewählet.
            Ihm antwortete drauf sein Vater, Tränen vergießend:

280   Fremdling, du bist gewiß in dem Lande, nach welchem du                 fragest!
          Aber hier wohnen freche und übermütige Männer!
          Und vergeblich hast du die vielen Geschenke verschwendet!
          Hättest du ihn lebendig in Ithakas Volke gefunden,
          Dann entließ er gewiß dich reichlich wiederbeschenket
285   Und anständig bewirtet; denn Pflicht ist des Guten                             Vergeltung.
          Aber verkündige mir, und sage die lautete Wahrheit.
          Wie viel Jahre sind es, seitdem dich jener besuchte?
          Dein unglücklicher Freund, mein Sohn, so lang' ich ihn hatte!
          Armer Sohn, den fern von der Heimat und seinen Geliebten
290   Schon die Fische des Meeres verzehreten, oder zu Lande
          Vögel und Tiere zerrissen! Ihn hat die liebende Mutter
          Nicht einkleidend beweint, noch der Vater, die wir ihn                         zeugten;
          Noch sein edles Weib, die keusche Penelopeia,
          Schluchzend am Sterbebette des lieben Gemahles                              gejammert,
295   Und ihm die Augen geschlossen: die letzte Ehre der Toten!
          Auch verkündige mir aufrichtig, damit ich es wisse:
          Wer, wes Volkes bist du? und wo ist deine Geburtstadt?
          Und wo liegt das Schiff, das dich und die tapfern Genossen
          Brachte? Kamst du vielleicht in einem gedungenen Schiffe,
300   Und die Schiffer setzten dich aus, und fuhren dann weiter?

              Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Gerne will ich dir dieses und nach der Wahrheit erzählen.
          Ich bin aus Alybas her, und wohin' im berühmten Palaste
          Meines Vaters Apheidas, des mächtigen Sohns Polypemons.

305   Und mein Namen ist Eperitos. Aber ein Dämon
          Trieb mich durch Stürme hieher, als ich gen Sikania steurte.
          Und mein Schiff liegt außer der Stadt am freien Gestade.
          Jetzo sind's fünf Jahre, seitdem der edle Odysseus
          Wieder von dannen fuhr, und Alybas' Ufer zurückließ.
310    Armer Freund! Und ihm flogen doch heilweissagende Vögel,
          Als er zu Schiffe ging: drum sah ich freudig ihn scheiden,
          Und er freute sich auch; denn wir hofften, einer den andern
          Künftig noch oft zu bewirten, und schöne Geschenke zu                     wechseln.

            Sprach's; und den Vater umhüllte die schwarze Wolke des               Kummers.

315    Siehe, er nahm mit den Händen des dürren Staubes, und                   streut' ihn
          Über sein graues Haupt, und weint' und jammerte herzlich.
          Aber Odysseus ergrimmte im Geist, und es schnob in der                   Nase
          Ihm der erschütternde Schmerz, beim Anblick des liebenden             Vaters.
          Küssend sprang er hinzu mit umschlingenden Armen, und                 sagte:

320      Vater, ich bin es selbst, mein Vater, nach welchem du                     fragest,
          Bin im zwanzigsten Jahre zur Heimat wiedergekehret!
          Darum trockne die Tränen, und hemme den weinenden                     Jammer!
          Denn ich sage dir kurz: (uns dringt die äußerste Eile!)
          Alle Freier hab' ich in unserem Hause getötet,

325   Und ihr Trotzen bestraft und die seelenkränkenden Greuel!

            Ihm antwortete drauf sein alter Vater Laertes:
          Bist du denn wirklich, mein Sohn Odysseus,                                           wiedergekommen;
          Lieber, so sage mir doch ein Merkmal, daß ich es glaube!

            Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

330   Erstlich betrachte hier mit deinen Augen die Narbe,
          Die ein Eber mir einst mit weißem Zahne gehauen,
          Ferne von hier am Parnassos: denn du und die treffliche                     Mutter
          Sandtet mich dort zu Autolykos hin, die Geschenke zu holen,
          Die mir bei der Geburt ihr besuchender Vater verheißen.
335   Jetzo will ich dir auch die Bäume des lieblichen Fruchthains
          Nennen, die du mir einst auf meine Bitte geschenkt hast;
          Denn ich begleitete dich als Knab' im Garten; wir gingen
          Unter den Bäumen umher, und du nanntest und zeigtest mir             jeden.
          Dreizehn Bäume mit Birnen, und zehn voll rötlicher Äpfel
340   Schenktest du mir, und vierzig der Feigenbäume; und                         nanntest
          Fünfzig Rebengeländer mit lauter fruchtbaren Stöcken,
          Die du mir schenken wolltest: sie hangen voll mancherlei                   Trauben,
          Wenn sie der Segen Gottes mit mildem Gewitter erfreuet.

            Also sprach er; und jenem erzitterten Herz und Kniee,

345   Als er die Zeichen erkannte, die ihm Odysseus verkündet.
          Seinen geliebtesten Sohn umarmend, sank er in Ohnmacht
          An sein Herz; ihn hielt der herrliche Dulder Odysseus.
          Als er zu atmen begann, und sein Geist dem Herzen                           zurückkam;
          Da erhub er die Stimme, und rief mit lautem Entzücken:

350       Vater Zeus! ja noch lebt ihr Götter im hohen Olympos,
          Wenn doch endlich die Greuel der üppigen Freier bestraft                 sind!
          Aber nun fürcht' ich sehr in meinem Herzen, daß plötzlich
          Alle Ithaker hier uns überfallen, und Botschaft
          Ringsumher in die Städte der Kephallenier senden!

355       Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
          Sei getrost, und laß dich diese Gedanken nicht kümmern!
          Folge mir jetzt in das Haus, hier nahe am Ende des Gartens:
          Dort ist Telemachos auch, und der Rinderhirt und der Sauhirt;
          Denn ich sandte sie hin, uns eilend das Mahl zu bereiten.

360      Also besprachen sie sich, und gingen zur prächtigen                         Wohnung.
          Und sie traten jetzt in die schönen Zimmer des Hauses,
          Wo Telemachos schon, und der Rinderhirt und der Sauhirt,
          Teilten die Menge des Fleisches, und Wein mit Wasser                       vermischten.
          Aber den edelgesinnten Laertes in seinem Palaste

365   Badete jetzo die treue Sikelerin, salbte mit Öl ihn,
          Und umhüllt' ihn dann mit dem prächtigen Mantel; Athene
          Schmückt' unsichtbar mit Kraft und Größe den Hirten der                 Völker,
          Schuf ihn höher an Wuchs, und jugendlicher an Bildung.
          Und er stieg aus dem Bade. Mit Staunen erblickte der Sohn               ihn,
370   Wie er gleich an Gestalt den unsterblichen Göttern                             einherging.
          Und er redet' ihn an, und sprach die geflügelten Worte:

            Wahrlich, o Vater, es hat ein unsterblicher Gott des                           Olympos
          Deine Gestalt erhöht, und deine Bildung verschönert!