Gerhard Schöne
Das bucklige Mädchen
In der holprigen Straße, im hölzernen Haus
Da wohnte ein Mädchen, das trat kaum heraus
Sie lebte allein und sprach nur mit Gott
Mit ihr trieben Kinder oft Spott
Sie war klein und zierlich und ging etwas krumm
Denn sie trug unterm Jäckchen 'nen Buckel herum
Manchmal warfen Jungs nach ihr Steine und Dreck
Und kreischten: "Ey, Hexe, geh weg!"
Vielleicht war sie siebzig, vielleicht war sie zehn
Sie war halt ein Kind, das viel Leid hat gesehen
Sie huschte zur Kirche und wieder nach Haus
Sah bitter und müde meist aus
Einmal als sie heim kam, da fand sie entsetzt
Im Schnee einen Raben, die Flügel verletzt
Und neben dem Tier einen kantigen Stein
Schnell trug sie den Raben hinein
Sie zog ihre wollene Strickjacke aus
Und machte dem Raben ein Bettchen daraus
Sie tränkte ein Löckchen in Heilkräutersud
Wie tat das dem kranken Tier gut
Sie pflegte den Raben, sang leis' in sein Ohr
Mal Schlaflieder, manchmal ein Weihnachtslied vor
Und lachte, denn immer beim "Halleluja"
Sang er ein zufriedenes "Kraah!"
Zwar fühlte der Rabe sich wohl in dem Haus
Doch als er gesund war, wollt' er gern hinaus
Da tat sie ihm traurig die Tür auf und schon
Flog krächzend der Rabe davon
Sie lachte und weinte vor Kummer und Glück
Ganz fern flog das Tierchen und kam nicht zurück
Sie schaute und schaute, bis sie nichts mehr sah
Noch krümmer als sonst stand sie da
Der Schnee fiel herab und der Mond zog herauf
Das Mädchen sah immer noch blicklos hinauf
Da flatterte schwarz überm mondbleichen Schnee
Der Rabe ganz in ihrer Näh'
Behänd' ist er auf ihren Buckel gehupft
Hat da mit dem kräftigen Schnabel gezupft
Und so, als ob man einen Fallschirm aufknüpft
Sind ihr ein Paar Flügel entschlüpft
Erst hat sie nur leicht ihre Flügel bewegt
Und sich dann mit Schwung in die Winde gelegt
Zog noch ein paar Kreise hoch über dem Dach
Dann südwärts, der Rabe ihr nach
Hey, war das ein Engel, ein menschlicher Schwan?
Die in jener Nacht aus dem Fenster raus sahen
Haben unheimlich lange zum Himmel geblickt
Und sich in die Arme gezwickt