Aus der nüchternen und drückenden Luft der Heimat herausgekommen, tat ich große Flügelschläge der Wonne und Freiheit. Wenn ich sonst im Leben je und je zu kurz gekommen bin, so habe ich doch die absonderliche, schwärmerische Lust der Jugendzeit reich und rein genossen. Gleich einem jungen Krieger, der am blühenden Waldrand rastet, lebte ich in seliger Unruhe zwischen Kampf und Getändel; und wie ein ahnungsvoller Seher stand ich an dunkeln Abgründen, dem Brausen großer Ströme und Stürme lauschend und die Seele gerüstet den Zusammenklang der Dinge und die Harmonie alles Lebens zu vernehmen. Tief und beglückt trank ich aus den vollen Bechern der Jugend, litt in der Stille süße Leiden um schöne, scheu verehrte Frauen und kostete das edelste Jugendglück einer männlich frohen, reinen Freundschaft bis zum Grunde.
In einem neuen Bukskinanzug und mit einer kleinen Kiste voll Bücher und sonstiger Habe kam ich angefahren, bereit mir ein Stück Welt zu erobern und so bald als möglich den Rauhbeinen daheim zu beweisen, daß ich aus einem anderen Holze als die übrigen Camenzinde geschnitten sei. Drei wundervolle Jahre wohnte ich in derselben weithinblickenden, windigen Mansarde, lernte, dichtete, sehnte mich und fühlte alle Schönheit der Erde mich mit warmer Nähe umgeben. Nicht jeden Tag hatte ich etwas Warmes zu essen, aber jeden Tag und jede Nacht und jede Stunde sang und lachte und weinte mir das Herz, einer starken Freude voll, und hielt das liebe Leben heiß und sehnlich an sich gedrückt.
Zürich war die erste große Stadt, die ich grüner Peter zu sehen bekam, und ein paar Wochen lang machte ich beständig große Augen. Das städtische Leben aufrichtig zu bewundern oder zu beneiden, fiel mir zwar nicht ein — darin war ich eben ein Bauer; aber ich hatte Freude an dem Vielerlei der Straßen, Häuser und Menschen. Ich beschaute die von Wagen belebten Gassen, die Schifflände, Plätze, Gärten, Prunkbauten und Kirchen; ich sah fleißige Leute in Scharen zur Arbeit laufen, sah Studenten bummeln, Vornehme ausfahren, Gecken sich brüsten, Fremde umherschlendern. Die modisch eleganten, hoffärtigen Weiber der Reichen kamen mir wie Pfauen im Hühnerhofe vor, hübsch, stolz und ein wenig lächerlich. Schüchtern war ich eigentlich nicht, nur steif und trotzig, und ich zweifelte nicht, daß ich ganz der Kerl dazu sei, dies rege Leben der Städte gründlich kennen zu lernen und später selber einmal meinen sicheren Platz darin zu finden.
Die Jugend traf mich an in der Gestalt eines schönen, jungen Menschen, der in derselben Stadt studierte und im ersten Stockwerk meines Hauses zwei hübsche Zimmer gemietet hatte. Jeden Tag hörte ich ihn unten Klavier spielen und spürte dabei zum erstenmal etwas vom Zauber der Musik, der weiblichsten und süßesten Kunst. Dann sah ich den hübschen Jungen das Haus verlassen, ein Buch oder Notenheft in der Linken, in der Rechten die Cigarette, deren Rauch hinter seinem biegsam schlanken Gang verwirbelte. Mich zog eine scheue Liebe zu ihm hin, doch blieb ich abgesondert und fürchtete mich mit einem Menschen Umgang zu haben, neben dessen leichtem, freiem und wohlhabendem Wesen meine Armut und mein Mangel an Lebensart mich nur demütigen würde. Da kam er selber zu mir. Eines Abends klopfte es an meiner Tür und ich erschrak ein wenig; denn ich hatte noch nie Besuch bei mir gesehen. Der schöne Student trat ein, gab mir die Hand, nannte seinen Namen und tat so frei und fröhlich, als wären wir alte Bekannte.
„Ich wollte fragen ob Sie nicht Lust hätten ein wenig mit mir zu musizieren,“ sagte er freundlich. Aber ich hatte in meinem Leben nie ein Instrument berührt. Ich sagte ihm das und fügte hinzu, daß ich außer Jodeln keinerlei Künste verstehe, doch habe mir sein Klavierspiel oft schön und verlockend heraufgeklungen.
„Wie man sich täuschen kann!“ rief er lustig. „Ihrem Äußeren nach hätte ich geschworen, Sie seien Musiker. Merkwürdig! Aber Sie können jodeln? O bitte, jodeln Sie doch einmal! Ich höre es ums Leben gern.“
Ich war ganz bestürzt und erklärte ihm, daß ich so auf Verlangen und in der Stube drin durchaus nicht jodeln könne. Das müsse auf einem Berge oder mindestens im Freien und ganz aus eigener Lust geschehen.
„Dann jodeln Sie also auf einem Berge! Vielleicht morgen? Ich bitte Sie sehr darum. Wir könnten etwa gegen Abend miteinander ausfliegen. Wir bummeln und plaudern ein wenig, droben jodeln Sie dann, und nachher essen wir in irgend einem Dorf zu Nacht. Sie haben doch Zeit?“
O ja, Zeit genug. Ich sagte eilig zu. Und dann bat ich ihn, mir etwas vorzuspielen, und stieg mit ihm in seine schöne, große Wohnung hinunter. Ein paar modern eingerahmte Bilder, das Klavier, eine gewisse zierliche Unordnung und ein feiner Cigarettenduft erzeugten in dem hübschen Raum eine Art von freier und behaglicher Eleganz und wohnlicher Stimmung, die mir ganz neu war. Richard setzte sich ans Klavier und spielte ein paar Takte.
„Sie kennen das, nicht wahr?“ nickte er herüber und sah prachtvoll aus, wie er so vom Spielen weg den hübschen Kopf herüberbog und mich glänzend ansah.
„Nein,“ sagte ich, „ich kenne nichts.“
„Es ist Wagner,“ rief er zurück, „aus den Meistersingern,“ und spielte weiter. Es klang leicht und kräftig, sehnsüchtig und heiter, und umfloß mich wie ein laues, erregendes Bad. Zugleich betrachtete ich mit heimlicher Lust den schlanken Nacken und Rücken des Spielers und seine weißen Musikerhände, und dabei überlief mich dasselbe scheue und bewundernde Gefühl von Zärtlichkeit und Achtung, mit dem ich früher jenen dunkelhaarigen Schüler betrachtet hatte, zusammen mit der schüchternen Ahnung, dieser schöne vornehme Mensch würde vielleicht wirklich mein Freund werden und meine alten, nicht vergessenen Wünsche nach einer solchen Freundschaft wahr machen.
Tags darauf holte ich ihn ab. Langsam und plaudernd erstiegen wir einen mäßigen Hügel, überschauten Stadt, See und Gärten und genossen die satte Schönheit des Vorabends.
„Und nun jodeln Sie!“ rief Richard. „Wenn Sie sich immer noch genieren, so drehen Sie mir den Rücken zu. Aber bitte, laut!“
Er konnte zufrieden sein. Ich jodelte wütend und frohlockend in die rosige Abendweite hinein, in allen Tonarten und Brechungen. Als ich aufhörte, wollte er etwas sagen, hielt aber sogleich wieder inne und deutete horchend gegen die Berge. Von einer fernen Höhe her kam Antwort, leise, langgezogen und schwellend, der Gruß eines Hirten oder Wanderers, und wir hörten still und freudig zu. Während dieses gemeinsamen Stehens und Lauschens überrann mich mit köstlichem Schauer die Empfindung, zum erstenmal neben einem Freunde zu stehen und so zu zweien in schöne, rosig verwölkte Lebensweiten zu blicken. Der abendliche See begann sein weiches Farbenspiel und kurz vor Sonnenuntergang sah ich aus zerfließendem Gedünste ein paar trotzige, frech gezackte Alpengipfel hervortreten.
„Dort ist meine Heimat,“ sagte ich. „Die mittlere Schroffe ist die rote Fluh, rechts das Geishorn, links und weiter entfernt der runde Sennalpstock. Ich war zehn Jahr und drei Wochen alt, als ich zum erstenmal auf dieser breiten Kuppe stand.“
Ich strengte die Augen an, um etwa noch einen der südlicheren Gipfel zu erspähen. Nach einer Weile sagte Richard etwas, das ich nicht verstand.
„Was sagten Sie?“ fragte ich.
„Ich sage, daß ich nun weiß, welche Kunst Sie treiben.“
„Welche denn?“
„Sie sind Dichter.“
Da wurde ich rot und ärgerlich und war zugleich erstaunt, wie er das erraten habe.
„Nein,“ rief ich, „ein Dichter bin ich nicht. Ich habe zwar auf der Schule Verse gemacht, aber nun schon lang keine mehr.“
„Darf ich die einmal sehen?“
„Sie sind verbrannt. Aber Sie dürften sie doch nicht sehen, auch wenn ich sie noch hätte.“
„Es waren gewiß sehr moderne Sachen, mit viel Nietzsche drin?“
„Was ist das?“
„Nietzsche? Ja großer Gott, kennen Sie den nicht?“
„Nein. Woher soll ich ihn kennen?“
Nun war er entzückt, daß ich Nietzsche nicht kannte. Ich aber wurde ärgerlich und fragte, über wieviel Gletscher er schon gegangen sei. Als er sagte über keinen, tat ich darüber ebenso spöttisch erstaunt wie er vorher über mich. Da legte er mir die Hand auf den Arm und sagte ganz ernst: „Sie sind empfindlich. Aber Sie wissen ja selber gar nicht, was für ein beneidenswert unverdorbener Mensch Sie sind und wie wenig solche es gibt. Sehen Sie, in einem Jahr oder zwei werden Sie Nietzsche und all den Kram ja auch kennen, viel besser als ich, da Sie gründlicher und gescheiter sind. Aber gerade so, wie Sie jetzt sind, hab ich Sie gern. Sie kennen Nietzsche nicht und Wagner nicht, aber Sie sind viel auf Schneebergen gewesen und haben so ein tüchtiges Oberländergesicht. Und ganz gewiß sind Sie auch ein Dichter. Ich kann das am Blick und an der Stirn sehen.“
Auch das, daß er so freimütig und ungeniert mich betrachtete und seine Meinung herausplauderte, erstaunte mich und kam mir ungewöhnlich vor.
Noch viel erstaunter und glücklicher war ich aber, als er acht Tage später in einem vielbesuchten Biergarten Brüderschaft mit mir schloß, vor allen Leuten aufsprang, mich küßte und umfaßte und mit mir wie verrückt um den Tisch herum tanzte.
„Was werden die Leute denken!“ warnte ich ihn schüchtern.
„Sie werden denken: die zwei sind außerordentlich glücklich oder ganz außerordentlich besoffen; die meisten aber werden gar nichts denken.“
Überhaupt schien Richard mir oft, obwohl er älter, klüger, besser erzogen und in allem beschlagener und raffinierter war als ich, doch im Vergleich mit mir das reine Kind zu sein. Auf der Straße machte er halbwüchsigen Schulmädchen feierlich-spöttisch den Hof, die ernsthaftesten Klavierstücke unterbrach er unerwartet mit völlig kindischen Witzen, und als wir einmal Spaßes halber in eine Kirche gegangen waren, sagte er plötzlich mitten während der Predigt nachdenklich und wichtig zu mir: „Du, findest du nicht, der Pfarrer sieht aus wie ein Kaninchengreis?“ Der Vergleich traf zu, ich fand aber, er hätte mir das auch nachher mitteilen können, und sagte ihm das.
„Wenn es doch richtig war!“ schmollte er. „Bis nachher hätte ich es wahrscheinlich wieder vergessen.“
Daß seine Witze keineswegs immer geistreich waren, häufig sogar nur auf das Citieren eines Buschverses hinausliefen, störte weder mich noch andere, denn was wir an ihm liebten und bewunderten, war nicht Witz und Geist, sondern die unbezwingliche Heiterkeit seines lichten, kindlichen Wesens, welche jeden Augenblick hervorbrach und ihn mit einer leichten, fröhlichen Atmosphäre umgab. Sie konnte sich in einer Geberde, in einem leisen Lachen, in einem fidelen Blicke äußern, aber lange sich verbergen konnte sie nicht. Ich bin überzeugt, daß er auch im Schlaf zuweilen lachen oder eine Geste der Heiterkeit machen mußte.
Richard brachte mich häufig mit andern jungen Leuten zusammen, Studenten, Musikanten, Malern, Literaten, allerlei Ausländern, denn was an interessanten, kunstliebenden und aparten Personen in der Stadt herumlief, geriet in seinen Umgang. Es waren manche ernste und heftig ringende Geister dabei, Philosophen, Ästhetiker und Sozialisten, und von vielen konnte ich ein gutes Stück lernen. Kenntnisse aus den verschiedensten Gebieten flogen mir stückweise an, ich ergänzte und las viel nebenher, und so gewann ich allmählich eine gewisse Vorstellung von dem, was die regsamsten Köpfe der Zeit plagte und bannte, und bekam einen wohltätig anspornenden Einblick in die geistige Internationale. Ihre Wünsche, Ahnungen, Arbeiten und Ideale waren mir anziehend und verständlich, ohne daß ein starker eigener Trieb mich genötigt hätte, für oder wider mitzustreiten. Bei den meisten fand ich alle Energie des Gedankens und der Leidenschaft auf Zustände und Einrichtungen der Gesellschaft, des Staates, der Wissenschaften, der Künste, der Lehrmethoden gerichtet, die wenigsten aber schienen mir das Bedürfnis zu kennen, ohne äußeren Zweck an sich selber zu bauen und ihr persönliches Verhältnis zur Zeit und Ewigkeit zu klären. Auch in mir selber lag dieser Trieb noch zumeist im Halbschlummer.
Freundschaften schloß ich keine mehr, da ich Richard ausschließlich und mit Eifersucht liebte. Auch den Frauen, mit denen er viel und vertraut umging, suchte ich ihn zu entziehen. Die kleinsten mit ihm getroffenen Verabredungen hielt ich peinlich genau und war empfindlich, wenn er mich warten ließ. Einmal bat er mich, ihn zu einer bestimmten Stunde zum Rudern abzuholen. Ich kam, fand ihn aber nicht zuhause und wartete drei Stunden vergebens auf sein Kommen. Tags darauf warf ich ihm seine Nachlässigkeit heftig vor.
„Warum bist du denn nicht einfach allein rudern gegangen?“ lachte er verwundert. „Ich hatte die Sache ganz vergessen; das ist doch schließlich kein Unglück.“
„Ich bin gewohnt mein Wort pünktlich zu halten,“ antwortete ich heftig. „Aber freilich bin ich auch daran gewöhnt, daß du dir wenig daraus machst, mich irgendwo auf dich warten zu wissen. Wenn man so viele Freunde hat wie du!“
Er sah mich mit maßlosem Erstaunen an.
„Ja, so ernst nimmst du jede Bagatelle?“
„Meine Freundschaft ist mir keine Bagatelle.“
„Dies Wort drang ihm in die Natur,
So daß er schleunigst Bessrung schwur,“
zitierte Richard feierlich, faßte mich um den Kopf, rieb nach orientalischem Liebesbrauch seine Nasenspitze an der meinen und liebkoste mich, bis ich ärgerlich lachend mich ihm entzog; die Freundschaft aber war wieder heil.
In meiner Mansarde lagen in entlehnten, oft kostbaren Bänden die modernen Philosophen, Dichter und Kritiker, literarische Revuen aus Deutschland und Frankreich, neue Theaterstücke, Pariser Feuilletons und Wiener Modeästheten. Ernster und liebevoller als mit diesen rasch gelesenen Sachen beschäftigte ich mich mit meinen altitalienischen Novellisten und mit historischen Studien. Mein Wunsch war, baldmöglichst die Philologie beiseite zu legen und einzig Geschichte zu studieren. Neben Werken über Gesamtgeschichte und historische Methode las ich namentlich Quellen und Monographieen über die Zeit des Spätmittelalters in Italien und Frankreich. Dabei lernte ich zum erstenmal meinen Liebling unter den Menschen, Franz von Assisi, den seligsten und göttlichsten aller Heiligen, genauer kennen. Und so ward mein Traum, in dem ich die Fülle des Lebens und Geistes vor mir eröffnet gesehen hatte, täglich wahr und erwärmte mir das Herz mit Ehrgeiz, Freude und Jugendeitelkeit. Im Hörsaal nahm mich die ernste, etwas herbe und gelegentlich etwas langweilige Wissenschaft in Anspruch. Zuhause kehrte ich bei den heimelig frommen oder schauerlichen Geschichten des Mittelalters oder bei den behaglichen alten Novellisten ein, deren schöne und wohlige Welt mich wie ein schattiger, dämmernder Märchenwinkel umschloß, oder ich fühlte die wilde Woge moderner Ideale und Leidenschaften über mich weg rollen. Dazwischen hörte ich Musik, lachte mit Richard, nahm an den Zusammenkünften seiner Freunde Teil, verkehrte mit Franzosen, Deutschen, Russen, hörte sonderbare moderne Bücher vorlesen, trat da und dort in die Ateliers der Maler oder wohnte Abendgesellschaften bei, in denen eine Menge aufgeregter und unklarer junger Geister erschien und mich wie ein phantastischer Karneval umgab.
Eines Sonntags besuchte Richard mit mir eine kleine Ausstellung neuer Gemälde. Mein Freund blieb vor einem Bilde stehen, das eine Alp mit ein paar Ziegen vorstellte. Es war fleißig und nett gemalt, aber ein wenig altmodisch und eigentlich ohne rechten künstlerischen Kern. Man sieht in jedem beliebigen Salon genug solche hübsche, wenig bedeutende Bildchen. Immerhin erfreute es mich als eine ziemlich treue Darstellung der heimatlichen Almen. Ich fragte Richard, was ihn denn an dem Bildchen anziehe.
„Das hier,“ sagte er und deutete auf den Malernamen in der Ecke. Ich konnte die rotbraunen Buchstaben nicht entziffern. „Das Bild,“ sagte Richard, „ist keine große Leistung. Es gibt schönere. Aber es gibt keine schönere Malerin als die, die das gemacht hat. Sie heißt Erminia Aglietti und wenn du willst, können wir morgen zu ihr gehen und ihr sagen, sie sei eine große Malerin.“
„Kennst du sie?“
„Jawohl. Wenn ihre Bilder so schön wären wie sie selber, dann wäre sie schon lange reich und würde keine mehr malen. Sie tut es nämlich ohne Lust und nur, weil sie zufällig nichts anderes gelernt hat, wovon sie leben könnte.“
Richard vergaß die Sache wieder und kam erst ein paar Wochen später darauf zurück.
„Ich bin gestern der Aglietti begegnet. Wir wollten sie ja eigentlich neulich schon besuchen. Also komm! Du hast doch einen reinen Kragen? Sie sieht nämlich darauf.“
Der Kragen war rein und wir gingen zusammen zur Aglietti, ich mit einigem inneren Widerstreben, denn der freie, etwas burschikose Verkehr Richards und seiner Kameraden mit Malweibern und Studentinnen hatte mir nie gefallen. Die Männer waren dabei ziemlich rücksichtslos, bald grob, bald ironisch; die Mädchen aber waren praktisch, klug und gerissen und nirgends war etwas von dem verklärenden Duft zu merken, in welchem ich die Frauen gerne sah und verehrte.
Etwas befangen trat ich in das Atelier. Mit der Luft der Malerwerkstätten war ich zwar wohl vertraut, doch betrat ich jetzt zum erstenmal ein Frauenatelier. Es sah recht nüchtern und sehr ordentlich aus. Drei oder vier fertige Bilder hingen in Rahmen, eines stand noch kaum ganz untermalt auf der Staffelei. Den Rest der Wände bedeckten sehr saubere, appetitlich aussehende Bleistiftskizzen und ein halbleerer Bücherschrank. Die Malerin nahm unsre Begrüßung kühl entgegen. Sie legte den Pinsel weg und lehnte sich im Malschurz gegen den Schrank und es sah aus, als verlöre sie nicht gerne viel Zeit an uns.
Richard machte ihr ungeheuerliche Komplimente über das ausgestellte Bild. Sie lachte ihn aus und verbat es sich.
„Aber Fräulein, ich konnte ja im Sinn haben das Bild zu kaufen! Übrigens sind die Kühe darauf von einer Wahrheit —“
„Es sind ja Ziegen,“ sagte sie ruhig.
„Ziegen? Natürlich Ziegen! Von einem Studium, wollte ich sagen, das mich verblüfft hat. Es sind Ziegen, wie sie leben, so recht ziegenmäßig. Fragen Sie meinen Freund Camenzind, der selbst ein Sohn der Berge ist; er wird mir Recht geben.“
Hier fühlte ich, während ich verlegen und belustigt dem Geschwätz zuhörte, mich vom Blick der Malerin überflogen und gemustert. Sie sah mich lange und unbefangen an.
„Sie sind Oberländer?“
„Ja, Fräulein.“
„Man sieht es. Nun, und was halten Sie von meinen Ziegen?“
„O, sie sind gewiß sehr gut. Wenigstens hab’ ich sie nicht für Kühe gehalten wie Richard.“
„Sehr gütig. Sie sind Musiker?“
„Nein, Student.“
Weiter sprach sie kein Wort mit mir und ich fand nun Ruhe, sie zu betrachten. Die Gestalt war durch den langen Schurz verdeckt und entstellt, und das Gesicht erschien mir nicht schön. Der Schnitt war scharf und knapp, die Augen ein wenig streng, das Haar reich, schwarz und weich; was mich störte und fast abstieß, war die Farbe des Gesichts. Sie erinnerte mich schlechterdings an Gorgonzola und ich wäre nicht erstaunt gewesen, grüne Ritzen darin zu finden. Ich hatte noch nie diese welsche Blässe gesehen und jetzt, im ungünstigen morgendlichen Atelierlicht, sah sie erschreckend steinern aus — nicht wie Marmor, sondern wie ein verwitternder, sehr gebleichter Stein. Ich war auch nicht gewohnt, ein Frauengesicht auf seine Formen zu prüfen, sondern pflegte in solchen noch in etwas knabenhafter Weise mehr nach Schmelz, nach Rosigem, nach Liebreiz zu suchen.
Auch Richard war vom heutigen Besuch verstimmt. Desto mehr war ich erstaunt oder eigentlich erschrocken, als er mir nach einiger Zeit mitteilte, die Aglietti wäre froh mich zeichnen zu dürfen. Es handle sich nur um ein paar Skizzen, das Gesicht brauche sie nicht, aber meine breite Figur habe etwas Typisches.
Ehe weiter hiervon die Rede war, kam ein anderes kleines Ereignis, das mein ganzes Leben geändert und für Jahre meine Zukunft bestimmt hat. Eines Morgens, da ich erwachte, war ich Schriftsteller geworden.
Auf das Drängen Richards hatte ich, rein als Stilübungen, gelegentlich Typen aus unsrem Kreis, kleine Erlebnisse, Gespräche und anderes skizzenhaft und möglichst treu dargestellt, auch einige Essays über Literarisches und Historisches geschrieben.
Eines Morgens nun, ich lag noch im Bette, trat Richard bei mir ein und legte fünfunddreißig Franken auf meine Bettdecke. „Das gehört dir,“ sagte er im Geschäftston. Endlich, als ich im Fragen alle Vermutungen erschöpft hatte, zog er ein Zeitungsblatt aus der Tasche und zeigte mir darin eine meiner kleinen Novellen abgedruckt. Er hatte mehrere meiner Manuskripte abgeschrieben, einem ihm befreundeten Redakteur gebracht und in aller Stille für mich verkauft. Das erste, was gedruckt war, samt dem Honorar dafür hielt ich nun in Händen.
Mir war nie so sonderbar zu mut. Eigentlich ärgerte ich mich über Richards Vorsehungspielen, aber der süße erste Schreiberstolz und das schöne Geld und der Gedanke an einen etwaigen kleinen Literatenruhm war doch stärker und überwog schließlich.
In einem Café brachte mich mein Freund mit dem Redakteur zusammen. Er bat, die ihm von Richard gezeigten anderen Arbeiten behalten zu dürfen und lud mich ein, ihm je und je neue zu schicken. Es sei ein eigener Ton in meinen Sachen, besonders in den historischen, deren er gerne mehr bekomme und die er mir ordentlich bezahlen wolle. Nun sah ich erst die Wichtigkeit der Sache. Ich würde nicht nur täglich ordentlich essen und meine kleinen Schulden bezahlen, sondern auch das Zwangsstudium wegwerfen und vielleicht in Bälde, auf meinem Lieblingsfelde arbeitend, ganz vom eigenen Erwerbe leben können.
Einstweilen bekam ich von jenem Redakteur einen Stoß neuer Bücher zum Rezensieren ins Haus geschickt. Ich fraß mich durch und hatte wochenlang damit zu tun; da aber die Honorare erst zu Ende des Quartals fällig waren und ich in Aussicht auf dieselben besser als sonst gelebt hatte, sah ich mich eines Tages der letzten Rappen ledig und konnte wieder einmal eine Hungerkur antreten. Ein paar Tage hielt ich bei Brot und Kaffee in meiner Bude aus, dann trieb mich der Hunger in eine Speisehalle. Ich nahm drei von den Rezensionsbänden mit, um sie als Pfand für die Zeche dortzulassen. Beim Antiquar hatte ich sie schon vergeblich anzubringen versucht. Das Essen war vorzüglich, beim schwarzen Kaffee aber ward mir etwas ängstlich ums Herz. Zaghaft gestand ich der Kellnerin, ich hätte kein Geld, wolle aber die Bücher als Pfand dalassen. Sie nahm eines davon, einen Band Gedichte, in die Hand, blätterte neugierig darin herum und fragte, ob sie das lesen dürfe. Sie lese so gern, könne aber nie zu Büchern kommen. Ich fühlte, daß ich gerettet sei und schlug ihr vor, die drei Bändchen an Zahlungsstatt für das Essen zu behalten. Sie ging darauf ein und hat mir nach und nach für siebzehn Franken Bücher auf diese Weise abgenommen. Für kleinere Gedichtbände beanspruchte ich etwa einen Käse mit Brot, für Romane dasselbe mit Wein, einzelne Novellen galten nur eine Tasse Kaffee mit Brot. Soweit ich mich erinnere, waren es meist geringe Sachen in krampfhaft neumodischem Stil und das gutmütige Mädchen mag von der modernen deutschen Literatur einen sonderbaren Eindruck erhalten haben. Ich erinnere mich mit Vergnügen an jene Vormittage, da ich im Schweiß meines Angesichts schnell noch einen Band im Galopp zu Ende las und ein paar Zeilen darüber schrieb, um ihn zur Mittagszeit fertig zu haben und etwas Eßbares dafür erhalten zu können. Vor Richard suchte ich meine Geldnöte sorgfältig zu verbergen, da ich mich unnötiger Weise ihrer schämte und seine Hilfe nur ungern und stets nur für ganz kurze Fristen annehmen mochte.
Für einen Dichter hielt ich mich nicht. Was ich gelegentlich schrieb, war Feuilleton, nicht Dichtung. Im stillen trug ich aber die geheimgehaltene Hoffnung, es werde mir eines Tages gegeben werden eine Dichtung zu schaffen, ein großes, kühnes Lied der Sehnsucht und des Lebens.
Der fröhlich klare Spiegel meiner Seele wurde zuweilen von einer Art von Schwermut verschattet, doch einstweilen nicht ernstlich gestört. Sie kam zuweilen für einen Tag oder eine Nacht, als eine träumende, einsiedlerische Trauer, verschwand wieder spurlos und kehrte nach Wochen oder Monaten zurück. Ich ward an sie allmählich wie an eine vertraute Freundin gewöhnt und empfand sie nicht quälend, sondern nur als ein unruhiges Müdesein, das seine eigene Süßigkeit hatte. Wenn sie mich nachts befiel, lag ich statt zu schlafen stundenlang im Fenster, sah den schwarzen See, die auf den bleichen Himmel gezeichneten Silhouetten der Berge und darüber die schönen Sterne. Dann ergriff mich oft ein ängstlich süßes, starkes Gefühl, als sähe all diese nächtige Schönheit mich mit einem gerechten Vorwurf an. Als sehnten sich Sterne, Berge und See nach Einem, der ihre Schönheit und das Leiden ihres stummen Daseins verstünde und ausspräche, und als wäre ich dieser Eine und als wäre dies mein wahrer Beruf, der stummen Natur in Dichtungen Ausdruck zu gewähren. Auf welche Weise das möglich wäre darüber dachte ich niemals nach, sondern fühlte nur die schöne, ernste Nacht ungeduldig in stummem Verlangen auf mich warten. Auch schrieb ich nie etwas in solcher Stimmung. Doch spürte ich gegen diese dunkeln Stimmen ein Gefühl der Verantwortung und trat gewöhnlich nach solchen Nächten mehrtägige einsame Fußwanderungen an. Es schien mir, ich könnte damit der Erde, die sich in stummem Flehen mir anbot, ein wenig Liebe erweisen, über welche Vorstellung ich dann selbst wieder lachte. Diese Wanderungen wurden eine Grundlage meines späteren Lebens; einen großen Teil der seitherigen Jahre habe ich als Wanderer verbracht, auf wochen- und monatelangen Touren durch mehrere Länder. Ich gewöhnte mich daran, mit wenig Geld und einem Stück Brot in der Tasche weit zu marschieren, tagelang einsam unterwegs zu sein und häufig im Freien zu nächtigen.
Die Malerin hatte ich über der Schriftstellerei ganz vergessen. Da kam ein Zettel von ihr: „Ein paar Freunde und Freundinnen werden am Donnerstag zum Tee bei mir sein. Bitte kommen Sie auch und bringen Sie Ihren Freund mit.“
Wir gingen hin und fanden eine kleine Künstlerkolonie beisammen. Es waren fast lauter Unberühmte, Vergessene, Erfolglose, was für mich etwas Rührendes hatte, obwohl alle ganz zufrieden und fidel schienen. Man bekam Tee, Butterbrot, Schinken und Salat. Da ich keine Bekannten dort fand und ohnehin nicht gesprächig war, gab ich meinem Hunger nach und aß etwa eine halbe Stunde lang still und ausdauernd, während die andern nur erst Tee nippten und schwatzten. Als diese nun, einer um den andern, auch ein wenig zugreifen wollten, zeigte es sich, daß ich fast den ganzen Schinkenvorrat allein verzehrt hatte. Ich war des trüglichen Glaubens gewesen, es stehe mindestens noch eine zweite Platte in Reserve. Da man nun leise lachte und ich einige ironische Blicke einheimste, wurde ich wütend und verwünschte die Italienerin samt ihrem Schinken. Ich stand auf und entschuldigte mich kurz bei ihr, erklärte ein andermal mein Abendessen selber mitbringen zu wollen, und griff nach meinem Hütlein.
Da nahm die Aglietti mir den Hut aus der Hand, sah mich erstaunt und ruhig an und bat mich ernstlich, dazubleiben. Auf ihr Gesicht fiel das Licht einer Stehlampe, durch den Florschirm gemäßigt, und da sah ich mitten in meinem Ärger mit plötzlich begreifendem Auge die wunderbare, reife Schönheit dieser Frau. Ich erschien mir auf einmal sehr unartig und dumm und nahm wie ein gemaßregelter Schuljunge in einer abseitigen Ecke Platz. Dort blieb ich sitzen und blätterte in einem Album vom Comersee. Die andern tranken Tee, gingen hin und her, lachten und redeten durcheinander, und irgendwo im Hintergrund hörte man Geigen und ein Cello stimmen. Ein Vorhang wurde zurückgeschlagen und man sah vier junge Leute vor improvisierten Pulten sitzen, bereit ein Streichquartett aufzuführen. In diesem Augenblicke trat die Malerin zu mir, stellte eine Tasse Tee vor mir aufs Tischchen, nickte mir gütig zu und nahm neben mir Platz. Das Quartett begann und dauerte lang, aber ich hörte nichts davon, sondern staunte mit runden Augen die schlanke, feine, schöngekleidete Dame an, an deren Schönheit ich gezweifelt und deren Vorräte ich aufgegessen hatte. Mit Freude und Angst erinnerte ich mich daran, daß sie mich hatte zeichnen wollen. Dann dachte ich an Rösi Girtanner, an die Besteigung der Alpenrosenwand, an die Geschichte der Schneekönigin, die mir jetzt alle nur wie eine Vorbereitung auf diesen heutigen Augenblick erschienen.
Als die Musik zu Ende war, ging die Malerin nicht, wie ich gefürchtet hatte, wieder weg, sondern blieb ruhig sitzen und fing mit mir zu plaudern an. Sie gratulierte mir zu einer Novelle, die sie in der Zeitung gesehen hatte. Sie scherzte über Richard, um den sich ein paar junge Mädchen drängten und dessen sorgloses Gelächter zuweilen alle anderen Stimmen überklang. Dann bat sie wieder, mich zeichnen zu dürfen. Da hatte ich einen Einfall. Unvermittelt führte ich das Gespräch italienisch fort und erntete dafür nicht nur einen fröhlich überraschten Blick ihrer lebhaften Südländeraugen, sondern hatte den köstlichen Genuß sie ihre Sprache reden zu hören, die Sprache, die ihrem Mund und ihren Augen und ihrer Gestalt entsprach, die wohllaute, elegante, raschfließende lingua Toscana mit einem entzückenden leichten Anflug von Tessinerwelsch. Ich selbst sprach weder schön noch fließend, doch störte es mich nicht. Andern Tags sollte ich kommen, um von ihr gezeichnet zu werden.
„A rivederla,“ sagte ich beim Abschied und verbeugte mich so tief ich konnte.
„A rivederci domani,“ lächelte sie und nickte.
Von ihrem Hause weg schritt ich immerzu weiter, bis die Straße einen Hügelkamm erreichte und plötzlich das dunkle Land schön und nächtig vor mit ruhte. Ein einzelnes Boot mit roter Laterne strich über den See und warf ein paar flackernde Scharlachstreifen auf das schwarze Wasser, aus welchem sonst nur da und dort ein vereinzelter schmaler Wellenkamm mit dünnem, silberfahlem Umriß hervortrat. In einem nahen Garten war Mandolinenspiel und Gelächter. Der Himmel war fast zur Hälfte verhangen und über die Hügel lief ein starker, warmer Wind.
Und wie der Wind die Äste der Obstbäume und die schwarzen Kronen der Kastanien liebkoste, bestürmte und beugte, daß sie stöhnten und lachten und zitterten, so spielte mit mir die Leidenschaft. Auf dem Kamm des Hügels kniete ich, legte mich auf die Erde, sprang auf und stöhnte, stampfte den Boden, warf den Hut von mir, wühlte mit dem Gesicht im Gras, rüttelte an den Baumstämmen, weinte, lachte, schluchzte, tobte, schämte mich, war selig und todbeklommen. Nach einer Stunde war alles in mir abgespannt und in einer trüben Schwüle erstickt. Ich dachte nichts, beschloß nichts, fühlte nichts; traumwandelnd stieg ich den Hügel hinab, schweifte durch die halbe Stadt, sah in einer abgelegenen Straße noch eine späte kleine Schenke offen, trat willenlos ein, trank zwei Liter Waadtländer und kam gegen Morgen schauderhaft betrunken nach Hause.
Am folgenden Nachmittag war Fräulein Aglietti ganz erschrocken, als ich zu ihr kam.
„Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Sie sehen ja ganz zerstört aus.“
„Nichts von Belang,“ sagte ich. „Mir scheint, ich war heute Nacht sehr betrunken, das ist alles. Bitte beginnen Sie nur!“
Ich ward auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, mich ruhig zu halten. Das tat ich auch, denn ich schlummerte in Bälde ein und habe jenen ganzen Nachmittag im Atelier verschlafen. Es kam vermutlich vom Terpentingeruch der Malerwerkstätte, daß ich träumte, unser Nachen zuhaus werde frischgestrichen. Ich lag im Kies daneben und sah meinen Vater mit Topf und Pinsel hantieren; auch die Mutter war da und als ich sie fragte, ob sie denn nicht gestorben sei, sagte sie leise: „Nein, denn wenn ich nicht dawäre, würdest du am Ende der gleiche Lump werden wie dein Papa.“
Als ich erwachte, fiel ich vom Stuhl und fand mich mit Erstaunen in die Werkstatt der Erminia Aglietti versetzt. Sie selbst sah ich nicht, hörte sie aber im Nebenstüblein mit Tassen und Besteck klappern und schloß daraus, daß es Abendessenszeit sein müsse.
„Sind Sie wach?“ rief sie herüber.
„Jawohl. Hab’ ich lang geschlafen?“
„Vier Stunden. Schämen Sie sich nicht?“
„O doch. Aber ich hatte einen so schönen Traum.“
„Erzählen Sie!“
„Ja, wenn Sie herauskommen und mir verzeihen.“
Sie kam heraus, doch wollte sie mit der Verzeihung noch warten, bis ich meinen Traum erzählt hätte. Also erzählte ich, und über dem Traumerzählen geriet ich tief in die vergessene Kinderzeit hinein, und als ich schwieg und es schon völlig dunkel geworden war, hatte ich ihr und mir selber meine ganze Kindheitsgeschichte erzählt. Sie gab mir die Hand, strich mir den zerknitterten Rock zurecht, lud mich ein morgen wieder zum Zeichnen zu kommen und ich fühlte, daß sie auch meine heutige Unart begriffen und verziehen habe.
In den nächsten Tagen saß ich ihr Stunde um Stunde. Es wurde dabei fast gar nichts gesprochen, ich saß oder stand ruhig und wie verzaubert da, hörte den weichen Strich der Zeichenkohle, sog den leichten Ölfarbegeruch ein und hatte keine andere Empfindung als daß ich in der Nähe der von mir geliebten Frau war und ihren Blick beständig auf mir ruhen wußte. Das weiße Atelierlicht floß an den Wänden hin, ein paar schläfrige Fliegen sumsten an den Scheiben und nebenan im Stübchen sang die Spiritusflamme, denn ich bekam nach jeder Sitzung eine Tasse Kaffee serviert.
Zuhause dachte ich oft über Erminia nach. Es berührte oder verminderte meine Leidenschaft gar nicht, daß ich ihre Kunst nicht verehren konnte. Sie selbst war so schön, gütig, klar und sicher; was gingen mich ihre Bilder an? Ich fand vielmehr in ihrer fleißigen Arbeit etwas Heroisches. Die Frau im Kampf ums Leben, eine stille, duldende und tapfere Heldin. Übrigens gibt es nichts Erfolgloseres als das Nachdenken über jemand, den man liebt. Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieder, worin tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch wo er durchaus nicht paßt.
So ist denn auch das Bild der schönen Italienerin, das ich im Gedächtnis trage, zwar nicht unklar, aber doch ohne die vielen kleinen Linien und Züge, die man an Fremden oft viel besser sieht als an Nahestehenden. Ich weiß nicht mehr, welche Frisur sie trug, wie sie sich kleidete u. s. w., nicht einmal ob sie eigentlich groß oder klein von Gestalt war. Wenn ich an sie denke, sehe ich einen dunkelhaarigen, edel geformten Frauenkopf, ein paar scharfblickende, nicht sehr große Augen in einem bleichen, lebendigen Gesicht und einen vollendet schön geschwungenen, schmalen Mund von herber Reife. Wenn ich an sie denke und an jene ganze verliebte Zeit, dann erinnere ich mich stets nur jenes Abends auf dem Hügel, wo der warme Wind seeüber wogte und wo ich weinte, jubelte und berserkerte. Und eines anderen Abends, von dem ich nun erzählen will.
Mir war klar geworden, daß ich der Malerin irgendwie Geständnisse machen und um sie werben müsse. Wäre sie mir fern gestanden, so hätte ich sie ruhig weiterhin verehrt und verschwiegene Schmerzen um sie gelitten. Aber sie fast täglich zu sehen, mit ihr zu reden, ihr die Hand zu geben und ihr Haus zu betreten, stets mit dem Stachel im Herzen, hielt ich nicht lange aus.
Es ward ein kleines Sommerfest von Künstlern und ihren Freunden veranstaltet. Es war am See, in einem hübschen Garten, ein reifer, weichlich lauer Hochsommerabend. Wir tranken Wein und Eiswasser, hörten der Musik zu und betrachteten die roten Papierlampen, die in langen Guirlanden zwischen den Bäumen hingen. Es wurde geplaudert, gespottet, gelacht und schließlich gesungen. Irgend ein lausiger Malerjüngling spielte den Romantischen, trug ein kühnes Barett, lag rücklings am Geländer hingestreckt und tändelte mit einer langhalsigen Guitarre. Die paar bedeutenderen Künstler fehlten entweder oder saßen ungesehen im Kreis der Älteren beiseite. Von den Frauenzimmern waren ein paar jüngere in lichten Sommerkleidern erschienen, die andern trieben sich in den gewohnten saloppen Kostümen herum. Namentlich fiel mir eine ältere, häßliche Studentin widerlich auf, sie trug einen Männerstrohhut auf den verschnittenen Haaren, rauchte Cigarren, trank tüchtig Wein und sprach laut und viel. Richard war wie gewöhnlich bei den jungen Mädchen. Ich war trotz aller Erregung kühl, trank wenig und wartete auf die Aglietti, die mir versprochen hatte sich heute von mir rudern zu lassen. Sie kam denn auch, schenkte mir ein paar Blumen und stieg mit mir in den kleinen Nachen.
Der See war glatt wie Öl und nächtig farblos. Ich trieb den leichten Nachen rasch in die stille Seebreite weit hinaus, und sah immerfort mir gegenüber die schlanke Frau bequem und zufrieden im Steuersitz lehnen. Der hohe Himmel war noch blau und trieb langsam einen matten Stern um den andern hervor, am Ufer war da und dort Musik und Gartenlustbarkeit. Mit leisem Gurgeln nahm das träge Wasser die Ruder auf, andere Boote schwammen da und dort dunkel und kaum mehr sichtbar auf der stillen Fläche, ich achtete aber wenig darauf, sondern hing mit unverwandten Blicken an der Steurerin und trug meine geplante Liebeserklärung wie einen schweren Eisenring um’s bange Herz. Das Schöne und Poetische der ganzen abendlichen Szenerie, das Sitzen im Kahn, die Sterne, der laue ruhige See und alles das beängstigte mich, denn es kam mir vor wie eine schöne Theaterdekoration, in deren Mitte ich eine sentimentale Szene agieren müsse. In meiner Angst und beklemmt durch die tiefe Stille, denn wir schwiegen beide, ruderte ich mit Macht drauf los.
„Wie stark Sie sind!“ sagte die Malerin nachdenklich.
„Meinen Sie dick?“ fragte ich.
„Nein, ich meine die Muskeln,“ lachte sie.
„Ja, stark bin ich schon.“
Dies war kein geeigneter Anfang. Traurig und ärgerlich ruderte ich weiter. Nach einer Weile bat ich sie, mir etwas aus ihrem Leben zu erzählen.
„Was möchten Sie denn hören?“
„Alles,“ sagte ich. „Am liebsten eine Liebesgeschichte. Dann erzähle ich Ihnen nachher auch eine von mir, meine einzige. Sie ist sehr kurz und schön und wird Sie amüsieren.“
„Was Sie sagen! Erzählen Sie doch!“
„Nein, erst Sie! Sie wissen ohnehin schon viel mehr von mir als ich von Ihnen. Ich möchte wissen, ob Sie jemals richtig verliebt waren oder ob Sie, wie ich fürchte, dafür viel zu klug und hochmütig sind.“
Erminia besann sich eine Weile.
„Das ist wieder eine von Ihren romantischen Ideen,“ sagte sie, „sich hier in der Nacht auf dem schwarzen Wasser von einer Frau Geschichten erzählen zu lassen. Ich kann das aber leider nicht. Ihr Dichter seid gewöhnt, für alles hübsche Worte zu haben und denen, die weniger von ihren Empfindungen reden, gleich gar kein Herz zuzutrauen. In mir haben Sie sich getäuscht, denn ich glaube nicht, daß man heftiger und stärker lieben kann als ich es tue. Ich liebe einen Mann, der an eine andere Frau gebunden ist, und er liebt mich nicht weniger; doch wissen wir beide nicht, ob es je möglich sein wird, daß wir zusammenkommen. Wir schreiben uns und wir treffen uns auch zuweilen . . . .“
„Darf ich Sie fragen, ob diese Liebe Sie glücklich macht, oder elend, oder beides?“
„Ach, die Liebe ist nicht da um uns glücklich zu machen. Ich glaube sie ist da, um uns zu zeigen, wie stark wir im Leiden und Tragen sein können.“
Das verstand ich und konnte nicht hindern, daß mir etwas wie ein leises Stöhnen statt der Antwort vom Munde kam.
Sie hörte es.
„Ah,“ sagte sie, „kennen Sie das auch schon? Sie sind noch so jung! Wollen Sie mir nun auch beichten? Aber nur wenn Sie wirklich wollen —.“
„Ein andermal vielleicht, Fräulein Aglietti. Mir ist heute ohnehin windig zu mut, und es tut mir leid, daß ich vielleicht auch Ihnen die Stimmung getrübt habe. Wollen wir umkehren?“
„Wie Sie wollen. Wie weit sind wir eigentlich?“
Ich gab keine Antwort mehr, sondern stemmte die Ruder rauschend gegen das Wasser, wendete und zog an, als wäre die Bise im Anzug. Das Boot strich eilig über die Fläche und mitten in dem Wirbel von Jammer und Scham, der in mir kochte, fühlte ich wie mir der Schweiß in großen Tropfen übers Gesicht lief, und fror zugleich. Wenn ich vollends daran dachte, wie nahe ich daran gewesen war den knieenden Bittsteller und mütterlich-freundlich abgewiesenen Liebhaber zu spielen, lief mir ein Schaudern durchs Mark. Das wenigstens war mir erspart geblieben, mit dem übrigen Jammer galt es nun sich abzufinden. Ich ruderte wie besessen heimwärts.
Das schöne Fräulein war einigermaßen befremdet, als ich am Ufer kurzen Abschied nahm und sie allein ließ.
Der See war so glatt, die Musik so fröhlich und die Papierlaternen so festlich rot wie zuvor, mir aber schien das alles jetzt dumm und lächerlich. Namentlich die Musik. Den Sammetrock, der noch immer seine Guitarre prahlerisch am breiten Seidenbande trug, hätte ich am liebsten zu Brei geschlagen. Und Feuerwerk stand auch noch bevor. Es war so kindisch!
Ich entlehnte von Richard ein paar Franken, setzte den Hut ins Genick und begann zu marschieren, vor die Stadt hinaus und weiter, eine Stunde um die andere, bis mich schläferte. Ich legte mich in eine Wiese, wachte aber nach einer Stunde taunaß, steif und fröstelnd wieder auf und ging ins nächste Dorf. Es war früh am Morgen. Kleeschnitter zogen durch die staubige Gasse, verschlafene Knechte glotzten aus den Stalltüren, bäuerliche Sommerarbeitsamkeit gab sich allerorten kund. Du hättest Bauer bleiben sollen, sagte ich mir, strich beschämt durchs Dorf und lief ermüdet weiter, bis die erste Sonnenwärme mir eine Rast erlaubte. Am Rand eines jungen Buchenstandes warf ich mich ins dürre Raingras und schlief in der warmen Sonne bis tief in den Spätnachmittag hinein. Als ich erwachte, den Kopf voll Wiesenduft und die Glieder so wohlig schwer wie sie nur nach langem Liegen auf Gottes lieber Erde sind, da kam mir das Fest und die Bootfahrt und alles das fern, traurig und halbverklungen vor wie ein vor Monaten gelesener Roman.
Ich blieb drei Tage fort, ließ mir die Sonne auf den Pelz brennen und überlegte mir, ob ich nicht in einem Strich heimwärts wandern und meinem Vater beim Öhmden helfen sollte.
Freilich war damit der Schmerz noch lange nicht abgetan. Nach meiner Rückkehr in die Stadt floh ich anfangs den Anblick der Malerin wie die Pest, doch ging das nicht lange an, und so oft sie mich später ansah und anredete, stieg mir das Elend in die Kehle.