V.
Es kommt nun diejenige Zeit meines Lebens, welche scheinbar bewegter und bunter war als das bisherige und allenfalls einen kleinen Moderoman abgäbe. Ich müßte erzählen, wie ich von einer deutschen Zeitung zum Redakteur berufen wurde. Wie ich meiner Feder und meinem bösen Maul zu viel Freiheit gönnte und dafür schikaniert und geschulmeistert wurde. Wie ich darauf den Ruf eines Säufers errang und schließlich, nach giftigen Händeln, das Amt niederlegte und mich als Korrespondenten nach Paris schicken ließ. Wie ich in diesem verfluchten Nest zigeunerte, verbummelte und auf verschiedenen Gebieten einen starken Tobak rauchte.
Es ist nicht Feigheit, wenn ich den etwaigen Schweinigeln unter meinen Lesern hier eine Nase drehe und diese kurze Zeit übergehe. Ich bekenne, daß ich einen Irrweg um den andern ging, allerlei Schmutz gesehen habe und darin gesteckt bin. Der Sinn für die Romantik der Bohème ist mir seither abhanden gekommen und ihr müßt mir erlauben, daß ich mich an das Reinliche und Gute halte, das doch auch in meinem Leben war, und jene verlorene Zeit verloren und abgetan sein lasse.
Namentlich Paris war schauderhaft: Nichts als Kunst, Politik, Literatur und Dirnengewäsch, nichts als Künstler, Literaten, Politiker und gemeine Weiber. Die Künstler waren so eitel und aufdringlich wie die Politiker, die Literaten noch eitler und aufdringlicher, und am eitelsten und aufdringlichsten waren die Weiber.
Eines Abends saß ich allein im Bois und überlegte mir, ob ich nur Paris oder lieber gleich das Leben überhaupt verlassen sollte. Darüber ging ich, seit langer Zeit zum erstenmal, in Gedanken mein Leben durch und berechnete, daß ich nicht viel daran zu verlieren habe.
Aber da sah ich plötzlich in scharfer Erinnerung einen längst vergangenen und vergessenen Tag — einen frühen Sommermorgen, daheim in den Bergen, und sah mich an einem Bette knieen und darauf lag meine Mutter und litt den Tod.
Ich erschrak und schämte mich, daß ich so lange jenes Morgens nicht mehr hatte denken können. Die dummen Mordgedanken waren vorbei. Denn ich glaube, daß kein ernster und nicht völlig entgleister Mensch fähig ist, sich das Leben zu nehmen, wenn er je einmal das Erlöschen eines gesunden und guten Lebens angesehen hat. Ich sah meine Mutter wieder sterben. Ich sah wieder auf ihrem Gesicht die stille, ernste Arbeit des Todes, der es adelte. Er sah herb aus, der Tod, aber so mächtig und auch gütig wie ein behutsamer Vater, der ein irregegangenes Kind heimholt.
Ich wußte plötzlich wieder, daß der Tod unser kluger und guter Bruder ist, der die rechte Stunde weiß und dessen wir mit Zuversicht gewärtig sein dürfen. Und ich begann auch zu verstehen, daß das Leid und die Enttäuschungen und die Schwermut nicht da sind, um uns verdrossen und wertlos und würdelos zu machen, sondern um uns zu reifen und zu verklären.
Acht Tage später waren meine Kisten nach Basel abgeschickt und ich wanderte zu Fuß durch ein schönes Stück Südfrankreich und fühlte von Tag zu Tag die unseligen Pariser Zeiten, deren Erinnerung mich wie ein Gestank verfolgte, verblassen und zu Nebel werden. Ich wohnte einer cour d’amour bei. Ich übernachtete in Schlössern, in Mühlen, in Scheunen, und trank mit den dunkeln, gesprächigen Burschen ihren warmen, sonnigen Wein.
Abgerissen, mager, braungebrannt und im Innern verändert kam ich nach zwei Monaten in Basel an. Es war meine erste so große Wanderung, die erste von vielen. Zwischen Locarno und Verona, zwischen Basel und Brieg, zwischen Florenz und Perugia sind wenig Orte, durch die ich nicht zwei und dreimal mit staubigen Stiefeln gepilgert bin — hinter Träumen her, von denen noch keiner sich erfüllt hat.
In Basel mietete ich eine Vorstadtbude, packte meine Habe aus und begann zu arbeiten; es freute mich in einer stillen Stadt zu leben, wo kein Mensch mich kannte. Die Beziehungen zu einigen Zeitungen und Revuen waren noch im Gang und ich hatte zu arbeiten und zu leben. Die ersten Wochen waren gut und ruhig, dann kam allmählich die alte Traurigkeit wieder, blieb tagelang, wochenlang, und verging auch bei der Arbeit nicht. Wer nicht an sich selber gespürt hat, was Schwermut ist, versteht das nicht. Wie soll ich es beschreiben? Ich hatte das Gefühl einer schauerlichen Einsamkeit. Zwischen mir und den Menschen und dem Leben der Stadt, der Plätze, Häuser und Straßen war fortwährend eine breite Kluft. Es geschah ein großes Unglück, es standen wichtige Dinge in den Zeitungen — mich ging es nichts an. Es wurden Feste gefeiert, Tote begraben, Märkte abgehalten, Konzerte gegeben — wozu? wofür? Ich lief hinaus, ich trieb mich in Wäldern, auf Hügeln und Landstraßen herum, und um mich her schwiegen Wiesen, Bäume, Äcker in klagloser Trauer, sahen mich stumm und flehentlich an und hatten das Verlangen mir etwas zu sagen, mir entgegen zu kommen, mich zu begrüßen. Aber sie lagen da und konnten nichts sagen, und ich begriff ihr Leiden und litt es mit, denn ich konnte sie nicht erlösen.
Ich ging zu einem Arzt, brachte ihm ausführliche Aufzeichnungen, versuchte ihm mein Leiden zu beschreiben. Er las, fragte, untersuchte mich.
„Sie sind beneidenswert gesund,“ lobte er dann, „körperlich fehlt Ihnen nichts. Suchen Sie sich durch Lektüre oder Musik zu erheitern.“
„Ich lese von Berufs wegen tagtäglich eine Menge neue Sachen.“
„Jedenfalls sollten Sie sich auch einige Bewegung im Freien gönnen.“
„Ich laufe täglich drei bis vier Stunden, in Ferienzeiten mindestens das doppelte.“
„Dann müssen Sie sich zwingen, unter Menschen zu gehen. Sie sind ja in Gefahr ernstlich menschenscheu zu werden.“
„Was liegt daran?“
„Es liegt viel daran. Je größer zur Zeit Ihre Unlust am Umgang ist, desto mehr müssen Sie sich zwingen Menschen zu sehen. Ihr Zustand ist noch kein Kranksein und scheint mir nicht bedenklich; wenn Sie aber nicht aufhören so passiv zu bummeln, könnten Sie schließlich doch einmal die Balance verlieren.“
Der Arzt war ein verständiger und wohlwollender Mann. Ich tat ihm leid. Er empfahl mich einem Gelehrten, in dessen Hause viel Verkehr und ein gewisses geistiges und literarisches Leben war. Ich ging hin. Man kannte meinen Namen, war liebenswürdig, fast herzlich, und ich kam öfters wieder.
Einmal kam ich an einem kalten Spätherbstabend hin. Ich fand einen jungen Historiker und ein sehr schlankes, dunkles Mädchen; sonst keine Gäste. Das Mädchen besorgte die Teemaschine, sprach viel und war spitzig gegen den Historiker. Nachher spielte sie ein wenig Klavier. Dann sagte sie mir, sie habe meine Satiren gelesen, aber gar nicht goutiert. Sie kam mir gescheit, aber ein wenig allzu gescheit vor, und ich ging bald nach Hause.
Inzwischen hatte man allmählich herausgebracht, ich säße viel in Kneipen herum und sei eigentlich ein heimlicher Säufer. Es wunderte mich kaum, denn der Klatsch blühte gerade in der akademischen Gesellschaft unter Männern und Frauen aufs üppigste. Meinem Verkehr schadete die beschämende Entdeckung gar nicht, machte mich vielmehr begehrt, denn man war gerade für die Temperenz begeistert, Herren und Damen gehörten den Komitees der Mäßigkeitsvereine an und freuten sich jedes Sünders, der ihnen in die Hände fiel. Eines Tages erfolgte der erste höfliche Angriff. Es ward mir die Schmach des Wirtshauslebens, der Fluch des Alkoholismus und all das vom sanitären, ethischen und sozialen Standpunkt zu betrachten nahe gelegt und ich wurde eingeladen einer Vereinsfeierlichkeit beizuwohnen. Ich war maßlos erstaunt, denn von allen solchen Vereinen und Bestrebungen hatte ich bisher kaum eine Ahnung gehabt. Die Vereinssitzung, mit Musik und religiösem Anstrich, war peinlich komisch und ich verhehlte diesen Eindruck nicht. Wochenlang wurde mir mit aufdringlicher Liebenswürdigkeit zugesetzt, die Sache wurde mir äußerst langweilig und eines Abends, da man mir wieder dasselbe Lied vorsang und sehnlich auf meine Bekehrung hoffte, ward ich desperat und bat mir energisch aus, man möge mich nun mit dem Geplärre verschonen. Das junge Mädchen war wieder da. Sie hörte mir aufmerksam zu und sagte dann ganz herzlich: „Bravo!“ Ich war aber zu verstimmt, um darauf zu achten.
Mit desto größerem Vergnügen sah ich ein kleines drolliges Mißgeschick mit an, das bei einer gewaltigen Abstinentenfestlichkeit passierte. Der große Verein samt zahllosen Gästen tafelte und tagte in seinem Hause, Reden wurden gehalten, Freundschaften geschlossen und Chöre gesungen und der Fortschritt der guten Sache mit großem Hosianna gefeiert. Einem als Fahnenträger angestellten Dienstmann dauerten die alkoholfreien Reden zu lange, er drückte sich in eine nahe Schenke, und als der feierliche Fest- und Demonstrationszug durch die Straßen seinen Anfang nahm, genossen schadenfrohe Sünder das ergötzliche Schauspiel, an der Spitze der begeisterten Scharen einen fröhlich betrunkenen Anführer und in seinen Armen die Fahne des blauen Kreuzes gleich einem schiffbrüchigen Mastbaum schwanken zu sehen.
Der besoffene Dienstmann wurde entfernt; nicht entfernt aber wurde das Gewimmel menschlichster Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Intriguen, das sich innerhalb der einzelnen Konkurrenzvereine und Komissionen erhoben hatte und zu immer freudigerer Blüte gedieh. Die Bewegung spaltete sich, ein paar Ehrgeizige wollten allen Ruhm für sich haben und schimpften über jeden nicht in ihrem Namen bekehrten Säufer; edle und selbstlose Mitarbeiter, an denen es nicht fehlte, wurden schnöde mißbraucht und in Bälde hatten Näherstehende Gelegenheit zu sehen, wie auch hier unter idealer Etikette allerlei unsaubere Menschlichkeiten zum Himmel stanken. Alle diese Komödien erfuhr ich so nebenher durch dritte Leute, hatte mein stilles Wohlgefallen daran und dachte mir auf mancher nächtlichen Heimkehr von Trinkereien: Seht, wir Wilde sind doch bessere Menschen.
In meiner kleinen, hoch und frei gelegenen Stube über dem Rhein studierte und grübelte ich viel. Ich war trostlos, daß das Leben so an mir ablief, daß kein starker Strom mich mitriß, keine heftige Leidenschaft oder Teilnahme mich erhitzte und dem dumpfen Traum entzog. Zwar arbeitete ich, neben dem täglich Notwendigen, an den Vorbereitungen zu einem Werk, welches das Leben der ersten Minoriten darstellen sollte; doch war dies kein Schaffen, nur ein stetes bescheidenes Sammeln und genügte dem Trieb meiner Sehnsucht nicht. Ich begann, indem ich mich an Zürich, Berlin und Paris erinnerte, mir die wesentlichen Wünsche, Leidenschaften und Ideale der Zeitgenossen klar zu machen. Einer arbeitete daran, die bisherigen Möbel, Tapeten und Kostüme abzuschaffen und die Menschen an freiere, schönere Umgebungen zu gewöhnen. Ein anderer war bemüht, den Häckelschen Monismus in populären Schriften und Vorträgen zu verbreiten. Andere hielten es für erstrebenswert, den ewigen Weltfrieden herbeizuführen. Und wieder einer kämpfte für die darbenden unteren Stände, oder sammelte und redete dafür, daß Theater und Museen für’s Volk gebaut und geöffnet würden. Und hier in Basel wurde der Alkohol bekämpft.
In all diesen Bestrebungen war Leben, Trieb und Bewegung; aber keine davon war mir wichtig und notwendig und es hätte mich und mein Leben nicht berührt, wenn alle jene Ziele heute erreicht worden wären. Hoffnungslos sank ich in den Stuhl zurück, schob Bücher und Blätter von mir und sann, und sann. Dann hörte ich vor den Fenstern den Rhein ziehen und den Wind sausen und lauschte ergriffen auf diese Sprache einer großen, überall auf der Lauer liegenden Schwermut und Sehnsucht. Ich sah die blassen Nachtwolken in großen Stößen wie erschreckte Vögel durch den Himmel flattern, hörte den Rhein wandern und dachte an meiner Mutter Tod, an den heiligen Franz, an meine Heimat in den Schneebergen und an den ertrunkenen Richard. Ich sah mich an den Felswänden klettern, um Alpenrosen für die Rösi Girtanner zu brechen, ich sah mich in Zürich von Büchern und Musik und Gesprächen erregt, sah mich mit der Aglietti auf dem nächtlichen Wasser fahren, sah mich über Richards Tod verzweifeln, reisen und wiederkommen, genesen und wieder elend werden. Wozu? Wofür? O Gott, war alles das denn nur ein Spiel, ein Zufall, ein gemaltes Bild gewesen? Hatte ich nicht gerungen und Qualen der Begierde gelitten nach Geist, nach Freundschaft, nach Schönheit, Wahrheit und Liebe? Quoll nicht noch immer in mir die schwüle Woge der Sehnsucht und der Liebe? Und alles für nichts, mir zur Qual, niemand zur Lust!
Dann war ich reif für die Kneipe. Ich blies die Lampe aus, tastete mich die steile alte Wendeltreppe hinab und erschien in einer Veltlinerhalle oder Waadtländer Weinstube. Dort empfing man mich als guten Gast mit Respekt, während ich gewöhnlich trutzig und gelegentlich sackgrob war. Ich las den Simplizissimus, der mich jedesmal ärgerte, trank meinen Wein und wartete, bis er mich trösten würde. Und der süße Gott berührte mich mit seiner weiblich weichen Hand, machte meine Glieder wohlig müde und führte meine verirrte Seele in das Land der schönen Träume zu Gast.
Gelegentlich wunderte ich mich selber darüber, daß ich die Leute so borstig behandelte und eine Art von Spaß daran hatte sie anzuschnauzen. In Gasthäusern, die ich öfter besuchte, fürchteten und verwünschten mich die Kellnerinnen als einen Grobian und Nörgler, der ewig zu reklamieren hatte. Geriet ich in ein Gespräch mit anderen Gästen, so war ich höhnisch und grob, freilich waren auch die Leute danach. Trotzdem fanden sich ein paar wenige Wirtshausbrüder, sämtlich schon alternde und unheilbare Sünder, mit denen ich zuweilen einen Abend versaß und ein leidliches Verhältnis fand. Es war namentlich ein ältlicher Rauhbein unter ihnen, seines Zeichens Dessinateur, ein Weiberfeind, Schweinigel und geaichter Zecher erster Klasse. Wenn ich ihn abends in irgend einer Schenke allein antraf, setzte es jedesmal ein scharfes Zechen ab. Erst wurde geplaudert, gewitzelt und nebenher ein Fläschchen Roter gebechert, dann trat allmählich das Trinken in den Vordergrund, das Gespräch schlief ein und wir hockten einander schweigsam gegenüber, sogen jeder an seiner Brissago und leerten jeder für sich seine Flaschen. Dabei war einer dem andern ebenbürtig, wir ließen stets gleichzeitig die Flaschen wieder füllen und beobachteten einer den andern halb mit Achtung und halb mit Schadenfreude. Zur Zeit des Neuen, im Spätherbst, zogen wir einst gemeinsam durch einige Markgräfler Weindörfer und im Hirschen zu Kirchen erzählte mir der alte Knopf seine Lebensgeschichte. Ich glaube, sie war interessant und absonderlich, doch vergaß ich sie leider vollständig. Geblieben ist mir nur seine Schilderung einer Trinkerei, schon aus seinen späteren Jahren. Es war irgendwo auf dem Lande bei einer dörflichen Festlichkeit. Als Gast am Honoratiorentisch verleitete er sowohl den Pfarrer wie den Schultheiß vorzeitig zu tüchtigen Räuschen. Der Pfarrer hatte aber noch eine Rede zu halten. Nachdem man ihn mit Mühe aufs Podium geschleppt, tat er dort ungeheuerliche Sprüche und mußte abgeführt werden, worauf der Schultheiß in die Lücke sprang. Er begann gewaltig aus dem Stegreif zu reden, wurde jedoch durch die heftige Bewegung plötzlich unwohl und endete seine Ansprache auf eine ungewöhnliche und unfeine Weise.
Später hätte ich diese und andere Geschichten mir gerne nochmals erzählen lassen. Es hatte aber bei einem Schützenfestabend unversöhnliche Händel zwischen uns gegeben, wir hatten einander die Bärte gerupft und waren im Zorn auseinander gegangen. Von da an kam es einige mal vor, daß wir als Feinde gleichzeitig in einer Wirtsstube saßen, jeder natürlich an einem anderen Tisch; aber aus alter Gewohnheit beobachteten wir einander schweigend, tranken im gleichen Tempo und blieben sitzen, bis wir längst die letzten Gäste waren und schließlich ersucht wurden abzuziehen. Zu einer Versöhnung ist es nie gekommen.
Fruchtlos und ermüdend war das ewige Nachdenken über die Ursachen meiner Trauer und Lebensunfähigkeit. Ich hatte durchaus nicht das Gefühl, fertig und verbraucht zu sein, sondern war voll von dunklen Trieben und glaubte daran, daß es zur rechten Stunde mir noch gelingen würde, etwas Tiefes und Gutes zu schaffen und dem spröden Leben wenigstens eine Handvoll Glück zu entreißen. Aber würde die rechte Stunde jemals kommen? Mit Bitterkeit dachte ich an jene modernen, nervösen Herren, die sich durch tausend künstliche Anregungen zur künstlerischen Arbeit stachelten, während in mir starke Kräfte unverbraucht lagen und liegen blieben. Und ich grübelte wieder, was für ein Hemmnis oder Dämon mir in meinem strotzend starken Leibe die Seele stocken und immer schwerer werden lasse. Dabei hatte ich auch noch den sonderbaren Gedanken, mich für einen aparten, irgendwie zu kurz gekommenen Menschen zu halten, dessen Leiden niemand kenne, verstehe oder teile. Es ist das Teuflische an der Schwermut, daß sie einen nicht nur krank, sondern auch eingebildet und kurzsichtig, ja fast hochmütig macht. Man kommt sich vor wie der geschmacklose Heinesche Atlas, der allein alle Schmerzen und Rätsel der Welt auf den Schultern liegen hat, als ob nicht tausend andere dieselben Leiden duldeten und im selben Labyrinth herumirrten. Auch daß die Mehrzahl meiner Eigenschaften und Eigenheiten nicht so sehr mir gehörte als Familiengut oder Übel der Camenzinde war, kam mir in meiner Isolierung und Heimatferne ganz abhanden.
Alle paar Wochen ging ich einmal wieder in das gastliche Gelehrtenhaus. Allmählich kannte ich ziemlich alle dort verkehrenden Leute. Es waren meist jüngere Akademiker, viele Deutsche darunter, von allen Fakultäten, außerdem ein paar Maler, einige Musiker, sowie ein paar Bürgersleute mit ihren Frauen und Mädchen. Ich sah oft mit Erstaunen diese Leute an, die mich als seltenen Gast begrüßten und von denen ich wußte, daß sie sich untereinander wöchentlich so und so viele mal sahen. Was sprachen und trieben sie nur immer miteinander? Die meisten hatten dieselbe stereotype Form des homo socialis und sie schienen mir alle ein wenig mit einander verwandt, kraft eines geselligen und nivellierenden Geistes, den ich allein nicht besaß. Es waren manche feine und bedeutende Menschen dabei, welchen die ewige Geselligkeit offenbar nichts oder nicht viel von ihrer Frische und persönlichen Kraft raubte. Mit einzelnen von ihnen konnte ich lang und mit Interesse sprechen. Aber von einem zum andern gehen, bei jedem eine Minute stehen bleiben, den Weibern auf gut Glück Artigkeiten sagen, meine Aufmerksamkeit auf eine Tasse Tee, zwei Gespräche und ein Klavierstück zu gleicher Zeit richten, dabei angeregt und vergnügt aussehen, das konnte ich nicht. Schrecklich war es mir, von Literatur oder Kunst reden zu müssen. Ich sah, daß auf diesen Gebieten sehr wenig gedacht, sehr viel gelogen und jedenfalls unsäglich viel geschwatzt wurde. Ich log also mit, hatte aber keine Freude daran und fand das viele nutzlose Gewäsche langweilig und entwürdigend. Viel lieber hörte ich etwa eine Frau von ihren Kindern sprechen oder erzählte selbst von Reisen, von kleinen Tageserlebnissen und anderen realen Dingen. Dabei konnte ich gelegentlich vertraulich und fast vergnügt werden. Meistens suchte ich aber am Schluß solcher Abende noch ein Weinhaus auf und schwemmte die Trockenheit im Halse und die faule Langeweile mit Veltliner weg.
Bei einer von diesen Gesellschaften sah ich das schwarze junge Mädchen wieder. Es war eine Menge Leute da, sie musizierten und verführten ihr gewohntes Getöse, und ich saß mit einer Bildermappe in einem abseitigen Lampenwinkel. Es waren Ansichten von Toskana, nicht die gewöhnlichen, tausendmal gesehenen Effektbildchen, sondern intimere, privatim skizzierte Veduten, meist Geschenke von Reisegenossen und Freunden des Hausherrn. Eben hatte ich die Zeichnung eines steinernen, schmalfenstrigen Häuschens in dem einsamen Tal von San Clemente gefunden, das ich erkannte, denn ich hatte dort manche Spaziergänge gemacht. Das Tal liegt ganz nah bei Fiesole, aber die Menge der Reisenden besucht es nie, weil keine Altertümer dort sind. Es ist ein Tal von herber und merkwürdiger Schönheit, trocken und kaum bewohnt, zwischen hohe, kahle und strenge Berge geklemmt, weltferne, melancholisch und unbetreten.
Das Mädchen trat heran und sah mir über die Schulter.
„Warum sitzen Sie immer so allein, Herr Camenzind?“
Es ärgerte mich. Sie fühlt sich von den Herren vernachlässigt, dachte ich, und nun kommt sie zu mir.
„Nun, bekomme ich keine Antwort?“
„Verzeihung, Fräulein; aber was soll ich denn antworten? Ich sitze allein, weil es mir Spaß macht!“
„Dann störe ich Sie also?“
„Sie sind komisch.“
„Danke; ist aber ganz gegenseitig.“
Und sie setzte sich. Ich hielt beharrlich mein Blatt in den Fingern.
„Sie sind doch vom Oberland,“ sagte sie. „Ich möchte Sie gern einmal von dort erzählen hören. Mein Bruder sagt, in Ihrem Dorf gebe es bloß einen Familiennamen, lauter Camenzinds. Ist das wahr?“
„Beinah,“ knurrte ich. „Es gibt aber auch einen Bäcker, der Füßli heißt. Und einen Gastwirt namens Nydegger.“
„Und sonst nichts als Camenzind! Und die sind alle miteinander verwandt’?“
„Mehr oder weniger.“
Ich reichte ihr die Zeichnung hin. Sie hielt das Blatt fest und ich bemerkte, daß sie es verstand so etwas richtig anzufassen. Das sagte ich ihr.
„Sie loben mich,“ lachte sie, „aber wie ein Schullehrer.“
„Wollen Sie das Blatt nicht auch ansehen?“ fragte ich grob. „Sonst kann ich es zurücklegen.“
„Was stellt es denn vor?“
„San Clemente.“
„Wo?“
„Bei Fiesole.“
„Sie sind dort gewesen?“
„Ja, mehrmals.“
„Wie sieht das Tal aus? Das hier ist ja nur ein Ausschnitt.“
Ich dachte nach. Die ernste, herbschöne Landschaft trat vor meinen Blick und ich schloß die Augen halb, um sie festzuhalten. Es dauerte eine Weile, ehe ich zu sprechen begann und es tat mir wohl, daß sie still blieb und wartete. Sie begriff, daß ich nachdachte.
Und ich schilderte San Clemente, wie es schweigend, dürr und großartig im Brand des Sommernachmittags liegt. Nebenan in Fiesole treibt man Industrie, flicht Strohhüte und Körbe, verkauft Souvenirs und Orangen, betrügt die Reisenden oder bettelt sie an. Weiter unten liegt Florenz und umfaßt eine Flut alten und neuen Lebens. Aber beide sieht man von Clemente aus nicht. Dort haben keine Maler gearbeitet, dort ist kein Römerbau gewesen, die Geschichte vergaß das arme Tal. Aber dort kämpft die Sonne und der Regen mit der Erde, dort erhalten sich schiefe Pinien mühsam am Leben und die paar Cypressen fühlen mit hageren Wipfeln in die Luft, ob nicht der feindliche Sturm nahe sei, der ihnen das karge Leben verkürzt, an dem sie mit dürstenden Wurzeln hängen. Es fährt zuweilen ein Ochsenwagen von den nahe liegenden großen Meierhöfen vorbei oder eine Bauernfamilie pilgert Fiesole entgegen, aber sie sind nur zufällige Gäste und die roten Röcke der Bauernweiber, die sonst so flott und lustig aussehen, stören hier und man vermißt sie gern.
Und ich erzählte, wie ich als junger Mensch mit einem Freunde dort wanderte, zu Füßen der Cypressen lag und mich an ihre hageren Stämme lehnte; und wie der traurig schöne Einsamkeitszauber des seltsamen Tales mich an die heimatlichen Schluchten erinnerte.
Wir schwiegen eine Weile.
„Sie sind ein Dichter,“ sagte das Mädchen.
Ich schnitt eine Grimasse.
„Ich meine es anders,“ fuhr sie fort. „Nicht weil Sie Novellen und dergleichen schreiben. Sondern weil Sie die Natur verstehen und lieb haben. Was ist es anderen Leuten, wenn ein Baum rauscht oder ein Berg in der Sonne glüht? Aber für Sie ist ein Leben darin, das Sie mitleben können.“
Ich antwortete, daß niemand „die Natur verstehe“ und daß man mit allem Suchen und Begreifenwollen nur Rätsel findet und traurig wird. Ein in der Sonne stehender Baum, ein verwitternder Stein, ein Tier, ein Berg — sie haben ein Leben, sie haben eine Geschichte, sie leben, leiden, trotzen, genießen, sterben, aber wir begreifen es nicht.
Indeß ich sprach und mich ihres geduldig stillen Aufmerkens freute, begann ich sie zu betrachten. Ihr Blick war auf mein Gesicht gerichtet und wich dem meinen nicht aus. Ihr Gesicht war ganz ruhig, hingegeben und von der Aufmerksamkeit ein wenig gespannt. Wie wenn ein Kind mir zuhörte. Nein, sondern wie wenn ein Erwachsener im Zuhören sich vergißt und, ohne es zu wissen, Kinderaugen bekommt. Und während des Betrachtens entdeckte ich allmählich mit naiver Finderfreude, daß sie sehr schön war.
Als ich nicht mehr sprach, blieb auch das Mädchen still. Dann schreckte sie auf und blinzelte ins Lampenlicht.
„Wie heißen Sie eigentlich, Fräulein?“ fragte ich und dachte nicht viel dabei.
„Elisabeth.“
Sie ging weg und wurde bald darauf genötigt Klavier zu spielen. Sie spielte gut. Aber da ich hinzutrat sah ich, daß sie nicht mehr so schön war.
Als ich die behaglich altmodische Treppe hinabstieg, um nach Hause zu gehen, hörte ich ein paar Worte vom Gespräch zweier Maler, welche in der Hausflur ihre Mäntel anlegten.
„Na ja, er hat sich den ganzen Abend mit der hübschen Lisbeth beschäftigt,“ sagte einer und lachte.
„Stille Wasser!“ meinte der andere. „Er hat sich nicht das Schlechteste ausgesucht.“
Also die Affen sprachen schon darüber. Es fiel mir plötzlich ein, daß ich, fast wider Willen, diesem fremden jungen Mädchen intime Erinnerungen und ein ganzes Stück meines inneren Lebens preisgegeben hatte. Wie kam ich dazu? Und nun schon die bösen Mäuler! — Bande!
Ich ging weg und betrat monatelang das Haus nicht mehr. Zufällig war eben einer von jenen zwei Malern der Erste, der mich auf der Straße darüber zur Rede stellte.
„Warum gehen Sie denn nicht mehr hin?“
„Weil ich das verdammte Klatschen nicht leiden kann,“ sagte ich.
„Ja, unsere Damen!“ lachte der Kerl.
„Nein,“ antwortete ich, „ich meine die Männer, und speziell die Herren Maler.“
Elisabeth sah ich in diesen Monaten nur ganz wenige Mal auf der Straße, einmal in einem Kaufladen und einmal in der Kunsthalle. Gewöhnlich war sie hübsch, doch nicht schön. Die Bewegungen ihrer überschlanken Gestalt hatten etwas Apartes, das sie meistens schmückte und auszeichnete, manchmal aber auch etwas übertrieben und unecht aussehen konnte. Schön, überaus schön war sie damals in der Kunsthalle. Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen, lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte, ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen. Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen hingegeben. Und wieder war ihre sonst verborgene Seele in ihr Gesicht getreten, lachte leise aus den vergrößerten Augen, machte den zu schmalen Mund kindlich weich und hatte die überkluge herbe Stirnfalte zwischen den Brauen geebnet. Die Schönheit und Wahrhaftigkeit eines großen Kunstwerkes zwang ihre Seele, selbst schön und wahrhaftig und unverhüllt sich darzustellen.
Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.
Um jene Zeit begann meine Freude an der stummen Natur und mein Verhältnis zu ihr sich zu verändern. Immer wieder streifte ich durch die wundervolle Umgebung der Stadt, am liebsten in den Jura hinein. Ich sah immer wieder die Wälder und Berge, Matten, Obstbäume und Gebüsche stehen und auf irgend etwas warten. Vielleicht auf mich, jedenfalls aber auf Liebe.
Und so begann ich diese Dinge zu lieben. Es kam ein starkes, dürstendes Verlangen in mir ihrer stillen Schönheit entgegen. Auch in mir drängte ein tiefes Leben und Sehnen dunkel empor und suchte nach Bewußtsein, nach Verstandenwerden, nach Liebe.
Viele sagen, sie „lieben die Natur“. Das heißt, sie sind nicht abgeneigt je und je ihre dargebotenen Reize sich gefallen zu lassen. Sie gehen hinaus und freuen sich über die Schönheit der Erde, zertreten die Wiesen und reißen schließlich eine Menge Blumen und Zweige ab, um sie bald wieder wegzuwerfen oder daheim verwelken zu sehen. So lieben sie die Natur. Sie erinnern sich dieser Liebe am Sonntag, wenn schönes Wetter ist, und sind dann gerührt über ihr gutes Herz. Sie hätten es ja nicht nötig, denn „der Mensch ist die Krone der Natur“. Ach ja, die Krone!
Also ich blickte immer begieriger in den Abgrund der Dinge. Ich hörte den Wind vieltönig in den Kronen der Bäume klingen, hörte Bäche durch Schluchten brausen und leise stille Ströme durch die Ebene ziehen, und ich wußte, daß diese Töne Gottes Sprache waren und daß es ein Wiederfinden des Paradieses wäre, diese dunkle, urschöne Sprache zu verstehen. Die Bücher wissen davon wenig, nur in der Bibel steht das wunderbare Wort vom „unaussprechlichen Seufzen“ der Kreatur. Doch ahnte ich, daß zu allen Zeiten Menschen, gleich mir von diesem Unverstandenen ergriffen, ihr Tagewerk verlassen und die Stille aufgesucht hatten, um dem Liede der Schöpfung zu lauschen, das Ziehen der Wolken zu betrachten und in rastloser Sehnsucht dem Ewigen anbetende Arme entgegenzustrecken, Einsiedler, Büßer und Heilige.
Bist du nie in Pisa gewesen, im Camposanto? Dort sind die Wände mit blaßgewordenen Bildern vergangener Jahrhunderte geschmückt, und eines davon zeigt das Leben der Einsiedler in der thebaischen Wüste. Das naive Bild strömt noch heute mit seinen verblaßten Farben den Zauber eines so seligen Friedens aus, daß du ein plötzliches Leid empfindest und daß es dich verlangt, deine Sünden und deine Unreinheit irgendwo in heiliger Weltferne von dir zu weinen und nicht wiederzukommen. Unzählige Künstler haben so versucht, ihr Heimweh in seligen Bildern auszusagen, und irgend ein kleines liebes Kinderbildchen von Ludwig Richter singt dir dasselbe Lied wie die Fresken von Pisa. Warum hat Tizian, der Freund des Gegenwärtigen und Körperlichen, seinen klaren und gegenständlichen Bildern manchmal jenen Hintergrund vom süßesten Ferneblau gegeben? Es ist nur ein Strich tiefblauer, warmer Farbe, man sieht nicht ob er ferne Gebirge oder nur den unbegrenzten Raum bedeuten will. Tizian, der Realist, wußte es selbst nicht. Er tat es nicht, wie die Kunsthistoriker wissen wollen, aus Gründen der Farbenharmonik, sondern es war sein Tribut an das Unstillbare, das verborgen auch in der Seele dieses Frohen und Glücklichen lebte. So, schien mir, war die Kunst zu allen Zeiten bemüht gewesen, dem stummen Verlangen des Göttlichen in uns eine Sprache zu schenken.
Reifer, schöner und doch viel kindlicher sprach der heilige Franz das aus. Ihn verstand ich erst damals völlig. Indem er die ganze Erde, die Pflanzen, Gestirne, Tiere, Winde und Wasser in seine Liebe zu Gott inbegriff, übereilte er das Mittelalter und selbst Dante und fand die Sprache des zeitlos Menschlichen. Er nennt alle Mächte und Erscheinungen der Natur seine lieben Brüder und Schwestern. Als er in seinen spätern Jahren von den Ärzten dazu verurteilt ward, sich die Stirn mit glühendem Eisen brennen zu lassen, begrüßte er mitten in der Angst des gefolterten Schwerkranken in diesem schrecklichen Eisen „seinen lieben Bruder, das Feuer.“
Indem ich nun anfing die Natur persönlich zu lieben, ihr zu lauschen wie einem Kameraden und Reisegefährten, der eine fremde Sprache redet, ward meine Schwermut zwar nicht geheilt, aber veredelt und gereinigt. Mein Ohr und Auge schärfte sich, ich lernte feine Tönungen und Unterschiede erfassen und sehnte mich, den Herzschlag alles Lebens immer näher und klarer zu hören und vielleicht einmal zu verstehen und vielleicht einmal der Gabe teilhaftig zu werden, ihm in Dichterworten Ausdruck zu gönnen, damit auch andere ihm näher kämen und mit besserem Verständnis die Quellen aller Erfrischung, Reinigung und Kindlichkeit besuchten. Einstweilen war das ein Wunsch, ein Traum — —, ich wußte nicht ob er sich je erfüllen könne und hielt mich ans nächste, indem ich allem Sichtbaren Liebe entgegenbrachte und mich gewöhnte, kein Ding mehr gleichgültig oder verächtlich zu betrachten.
Ich kann nicht sagen, wie erneuend und tröstend dies auf mein verdunkeltes Leben wirkte! Es ist nichts Adligeres und nichts Beglückenderes in der Welt als eine wortelose, stetige, leidenschaftslose Liebe und ich wünsche nichts herzlicher als daß von denen, die meine Worte lesen, einige oder auch nur zwei oder einer diese reine und selige Kunst durch meinen Antrieb zu lernen beginnen möchte. Manche haben sie von Natur und üben sie ihr Leben lang unbewußt, das sind Gottes Lieblinge, die Guten und Kinder unter den Menschen. Manche haben sie in schweren Leiden gelernt — habt ihr nie unter Krüppeln und Elenden solche mit überlegenen, stillen, glänzenden Augen gesehen? Wenn ihr nicht auf mich und meine armen Worte hören möget, so gehet zu ihnen, in denen eine begierdelose Liebe das Leiden überwand und verklärte.
Dieser Vollendung, die ich an manchen armen Duldern verehrt habe, stehe ich noch heute kläglich fern. Aber diese Jahre hindurch entbehrte ich nur selten des tröstenden Glaubens, den rechten Weg zu ihr zu wissen.
Daß ich ihn auch immer gegangen wäre, darf ich nicht sagen, vielmehr blieb ich unterwegs auf allen Bänken sitzen und sparte auch manchen bösen Umweg nicht. Zwei selbstsüchtige und mächtige Neigungen stritten in mir wider die echte Liebe. Ich war Trinker und ich war menschenscheu. Zwar beschnitt ich mein Quantum Wein erheblich, aber alle paar Wochen überredete mich der schmeichlerische Gott, daß ich mich ihm in die Arme warf. Daß ich etwa auf der Straße liegen blieb oder ähnliche Nachtstücke verübte, ist allerdings kaum jemals vorgekommen, denn der Wein liebt mich, und lockt mich nur bis dahin, wo seine Geister mit meinem eigenen in freundschaftlichem Zwiegespräch verkehren. Immerhin verfolgte mich lange Zeit nach jeder Trinkerei das böse Gewissen. Aber schließlich konnte ich meine Liebe doch nicht gerade dem Wein entziehen, zu dem ich eine starke Neigung vom Vater ererbt hatte. Jahrelang hatte ich diese Erbschaft sorgsam und pietätvoll gehegt und mir gründlich zu eigen gemacht, also half ich mir nun und schloß zwischen Trieb und Gewissen einen halb ernsten, halb scherzhaften Vertrag. Ich nahm in den Lobgesang des Heiligen von Assisi „meinen lieben Bruder, den Wein“ mit auf.