Johann Wolfgang von Goethe
Requiem für Mignon, Op. 98b
(Wen bringt ihr uns zur stillen Gesellschaft?)

Einen müden Gespielen bringen wir euch; laßt ihn unter euch ruhen, bis das Jauchzen himmlischer Geschwister ihn dereinst wieder aufweckt

(Erstling der Jugend in unserm Kreise, sei willkommen! mit Trauer willkommen! Dir folge kein Knabe, kein Mädchen nach! Nur das Alter nahe sich willig und gelassen der stillen Halle, und in ernster Gesellschaft ruhe das liebe, liebe Kind!)

Ach, wie ungern brachten wir ihn her! Ach, und er soll hier bleiben! Laßt uns auch bleiben, laßt uns weinen, weinen an seinem Sarge!

(Seht die mächtigen Flügel doch an! Seht das leichte reine Gewand! Wie blinkt die gold'ne Binde vom Haupt! Seht die schöne, die würdige Ruh!)

Ach! Die Flügel heben sie nicht; im leichten Spiele flattert es nicht mehr; als wir mit Rosen kränzten ihr Haupt, blickte sie hold und freundlich nach uns

(Schaut mit den Augen des Geistes hinan! In euch lebe die bildende Kraft, die das Schönste, das Höchste hinauf über die Sterne das Leben trägt.)

Aber, ach! Wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht, sammelt der Wiese Blumen nicht mehr. Laßt uns weinen, wir lassen sie hier! Laßt uns weinen und bei ihr bleiben!

(Kinder, kehret ins Leben zurück! Eure Tränen trockne die frische Luft, die um das schlängelnde Wasser spielt. Entflieht der Nacht! Tag und Lust und Dauer ist der Lebendigen Los.)

Auf, wir kehren ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe bringt und der Schlaf uns erquickt

(Kinder, eilet ins Leben hinan! In der Schönheit reinem Gewande begegn' euch die Liebe mit himmlischen Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit!)