Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters theatralische Sendung Kapitel IV
                                            Zweites Buch
                                                1.Kapitel

    Die Verbindung einer Reisegesellschaft ist eine Art von Ehe, und man findet sich bei ihr auch leider wie bei dieser, oft mehr aus Konvenienz als aus Harmonie zusammen, und die Folgen eines leichtsinnig eingegangenen Bundes sind hier und dorten gleich. Wilhelm hatte sich einen Lohnkutscher bis an einen gewissen Ort gedungen, und um die Kosten der Fuhre nicht allein zu bezahlen, noch drei Passagiers aufgerafft die eben den Weg gingen. Ein jeder hatte sein besonderes Interesse, wovon er den andern ausschließlich unterhielte und einigen Nutzen für sich zu ziehen hoffte. Der eine war ein Bergmeister, der andere ein Weinhändler, der dritte, noch der uneigennützigste, fand auf dem ganzen Wege nichts merkwürdiges als Pferde und Mädchen. Wilhelm war wie versiegelt in ihrer Gesellschaft, besonders verdrossen ihn die unartigen Gespräche, die rohen und übertriebenen Forderungen in den Herbergen, und die ewigen Händel mit dem Postillion, der darum um nichts geschwinder fuhr.

    Sie hielten Mittags in einem Wirtshause an, wo der Bergmeister einige seiner Leute, die er hierher bestellt hatte, vor der Türe mitten unter einem Truppe Bauern antraf.

    Jede Gattung Menschen die Uniform trägt imponiert dem großen Haufen, und weiß sich ihres Vorzugs meistens sehr gut zu bedienen. Die Bergleute hatten Zithern bei sich, spielten, sangen, indes die andern um sie herumstunden und die Mäuler aufsperrten. Die Gesellschaft drängte sich durch, und die Sänger verdoppelten ihre Bemühungen, da sie nun auf ein gutes Trinkgeld hoffen konnten. Nach Begrüßung ihres Vorgesetzten, trugen sie mit ihren lebhaften und grellen Stimmen verschiedne artige Lieder vor. Auf einmal, da sie sahen, daß man Gefallen an ihrem Spiele hatte, erweiterten sie ihren Kreis und einer trat mit einer Hacke auf und stellte indes die andern ein Stück aufspielten die Handlung des Schürfens vor. Es währte nicht lange so trat ein Bauer aus der Menge und gab ihm pantomimisch drohend zu verstehn, daß er sich von hier hinwegbegeben solle. Die Gesellschaft war darüber verwundert, und erkannte erst den zum Bauer verkleideten Bergmann als er den Mund auf tat, und in einer Art von Rezitativ den andern schalt, daß er es wage auf seinem Acker zu handtieren. Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an den Landmann zu belehren, daß er ein Recht dazu habe, und gab ihm die ersten Begriffe von dem Bergbaue. Der Bauer tat allerlei alberne Fragen, worüber die Zuschauer herzlich lachten. Der Bergmann suchte ihn zu rektifizieren, und bewies ihm am Ende den Vorteil der zuletzt auf ihn fließe, wenn die unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden. Der Bauer der jenem zuerst mit Schlägen gedroht, wurde nach und nach besänftigt, und sie schieden als gute Freunde, und besonders der Bergmann auf die honorabelste Art von der Welt aus diesem Streite.

    Nachdem sie geendigt hatten, gab jeder, besonders Wilhelm, sein Trinkgeld gerne. Das Essen war bereit und nach Tische entschlossen sie sich, da man dem Gebürge nahe war, und die Fahrt langsam und beschwerlich ging, bis in das Nachtquartier zu Fuße zu gehen. Der Postillion beschrieb der Gesellschaft den Weg, und sie verlor sich bald auseinander, indem ein Teil voreilte, und der andre zurückblieb.

    Wilhelm war bald allein. Er durchstrich mit leisem Schritte Täler und Berge, in der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe, sah er zum erstenmale, und doch hatten seine frühsten Jugendträume schon um solche Gegenden geschwebt. Er war bei diesem Anblicke nun wieder verjüngt, alle erdulteten Schmerzen waren ganz aus seiner Seele weggewaschen, und mit jugendlicher Fröhlichkeit rezitierte er Stellen seiner ersten Dramen, Stellen anderer Dichter, besonders aus dem Pastor fido, die an diesen einsamen Plätzen scharenweise seinem Gedächtnisse zuflossen. Er belebte die Welt die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahndung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.

    Mehrere Menschen, die auf einander folgend, hinter ihm herkamen, an ihm mit einem Gruße vorbeigingen und den Weg in das Gebürg eilig fortsetzten, hatten ihn verschiedene male unterbrochen ohne daß er auf sie aufmerksam geworden wäre. Endlich gesellte sich ein Gesprächicherer zu ihm und erzählte die Ursache der starken Pilgrimschaft. Zu Hochdorf, sagte er, und dies war auch der Name des Nachtquartiers unserer Reisenden, wird heute Abend eine Komödie gegeben, wohin alles aus der Nachbarschaft eilt. – Wie, rief Wilhelm, in diesen einsamen Gebürgen, zwischen diesen undurchdringlichen Wäldern, hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden, und sich einen Tempel aufgebaut! – Sie werden sich noch mehr wundern, sagte der andre, wenn Sie hören, durch wen es aufgeführt wird. Es ist eine große Wachstapetenfabrik an dem Orte, die viele Leute ernährt. Der Unternehmer, der so zu sagen, von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiß seine Maler und Arbeiter Winters nicht besser zu beschäftigen, als daß er sie veranlaßt hat Komödien zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen, und wünscht sie sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine Festlichkeit.

    Bei dem Namen des Ortes und des Fabrikdirektors fiel ihm auf, daß er auch diesen Mann auf der Liste derjenigen habe, die ihm zu mahnen, aufgetragen worden. Da kommst du zur ungelegenen Stunde, sagte er zu sich, indem du dieser Leute Sorge erneuerst, die sie sich vielleicht einen Augenblick aus dem Sinne geschlagen hatten. Diese Betrachtung verdarb ihm den ganzen Überrest des Weges und er nahte sich nicht ohne eine geheime gutmütige Unruhe dem Hause. Die übrige Reisegesellschaft war schon vorher in dem Gasthofe angekommen, und hatte sich, von der Neuheit des Schauspiels angezogen, einen Eingang verschafft, und Wilhelm wurde auch von dem Hausvater mit größter Freundlichkeit aufgenommen. Als er seinen Namen nannte tat der Alte ganz verwundert und rief aus: ei mein Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank, und, auch bis itzt noch Geld schuldig bin! Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt, daß ich ein Bösewicht sein müßte, wenn ich ihn nicht treulich und redlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit um zu sehen, daß es mir Ernst ist. Ich habe seit einigen Jahren immer Aufschub gebeten, nun aber sind mir Gott sei Dank, einige ansehnliche Schuldposten eingegangen, und ich habe eine Einteilung gemacht wo Ihr Herr Vater nicht vergessen ist. Ich bin ihm noch hundert Dukaten schuldig, zwei hundert Taler liegen gleich parat, und wegen des Überrestes wird er mir ja wohl, bis die nächste Messe Kredit geben. Er rief seine Frau herbei, welche eben so erfreut schien den jungen Menschen zu sehn, versicherte, daß er seinem Vater gliche, und sehr bedauerte, daß sie ihn wegen vieler Fremden die Nacht nicht beherbergen könnte. Wilhelm produzierte seine Papiere und Vollmachten, der Alte führte ihn in sein Comtoir, und zahlte ihm die zweihundert Taler auf der Stelle in Golde aus. Wenn das so fortgeht, dachte er bei sich selbst, so hat Werner wohl Recht, daß es leichter ist als man denkt, die Menschen zu ihrer Schuldigkeit anzuhalten.

    Die Stunde des Schauspieles nahte herbei als man auf einmal die traurige Nachricht brachte, der neue Pfarrer, der erst einige Monate angezogen war, habe das Schauspiel untersagen oder vielmehr ankündigen lassen, er könne nicht zugeben, daß in seiner Gemeinde Komödie gespielt würde, bis sie eine Erlaubnis von dem Amte vorzeigten. Man hatte ihm vergebens vorgestellt, der Amtmann wisse nur sehr wohl darum, sei öfters selbst in den Stücken gewesen, er werde gewiß nichts dagegen einzuwenden haben, man könne nur unter drei Stunden nicht hin und her kommen; vergebens! er blieb auf seinem Kopfe, und die ganze Gesellschaft war in der größten Verlegenheit. Wilhelm übernahm es, ihn zu rektifizieren, ging zu ihm und hielt ihm die pathetischste Anrede. Der Geistliche war unbeweglich, und der junge Redner legte ihm Gründe aller Art vor; umsonst! denn jener blieb auf seiner Meinung und versicherte, daß er nicht abgehen könne noch wolle. Der unglückliche Abgesandte kehrte voll Zorn und Verdruß zurück, die ganze Gesellschaft war außer sich. Die Akteurs kamen angezogen herbeigelaufen und erzählten mit der größten Unruhe, daß Lampen und Lichter brennten, und alles zum Winke bereit sei. Man schalt, man stampfte, man lief, man schrie. Als der Lärm am ärgsten wurde, kamen Pferde vor die Türe, und der Oberforstmeister mit einigen Jägern stieg ab. Er wunderte sich höchlich über die Verwirrung, in der er das Haus fand und worüber man ihm fast die gewöhnliche Ehrerbietung zu bezeigen vergaß. Da er die Ursache davon hörte, rief er aus, der Pfaff will euch nicht spielen lassen! ei! ei! ich will ihm ein Wörtchen in das Ohr sagen, wir sind gute Freunde, er wird mir es gewiß zu Gefallen tun.

    Er ging auch wirklich zu ihm, und kam bald mit der Erlaubnis zurück, sie sollten nur anfangen. Wilhelm wünschte bei sich selbst die Gründe zu wissen, womit dieser Kavalier den Geistlichen überredet hätte, denn ich habe doch wie mich dünkt, sagte er zu sich selbst, nichts vergessen, was ein vernünftiger Mensch bei dieser Gelegenheit sagen kann, und habe ihn nicht überzeugen können.

    Die Gesellschaft wurde nunmehro in das Schauspielhaus geführt, welches eine Scheune war, die gleich am Garten lag. Die innere Dekoration verwunderte jedermann, denn sie war artig obgleich ohne sonderlichen Geschmack. Einer von den Malern, welche auf der Fabrik arbeiteten, hatte bei der Dresdner Oper Hand gelangt. Leinwand und Farben kosteten wenig und ihre Mühe ward durch die Sache selbst belohnt. Ihr Stück, das sie halb von einer herumziehenden Truppe geborgt, halb nach ihrer eigenen Weise zurecht gestutzt hatten, so schlecht es war, unterhielte die Zuschauer. Die Intrigue, daß zwei Liebhaber ein Mädchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entreißen wollen, brachte allerlei interessante Situationen hervor, und machte den Gang des Stückes lebhaft. Ich sehe daraus, sagte Wilhelm bei sich selbst, daß die Alten Recht haben, die behaupten, daß ein Stück, wenn es voller Handlung sei, auch ohne Sitten, ohne Schilderung wahrer Menschheit, doch gefallen und ergötzen könne. Dies, sagen sie, seien die Anfänge des Theaters gewesen, und ich glaube es fast, da es auch die Anfänge des unsrigen sind. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht, der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.

    Aus seinen stillen Betrachtungen störte ihn der Tobaksdampf der immer stärker und stärker wurde. Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfange des Stücks seine Pfeife angezündet, und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit aus. Noch einen schummern Auftritt machten die großen Hunde dieses Herrn, die man zwar ausgesperrt hatte, die aber bald den Weg zu einer Hintertüre hereinfanden, auf das Theater liefen, wider die Akteurs rannten und durch einen Sprung über das Orchester, ihren Herrn im Parterre aufsuchten.

    Zum Nachspiel hatten sie einen Glückwunsch zusammengestoppelt, ein schlechtes Portrait des Alten auf einen Altar gestellt und mit Kränzen behängt, dem sie in demutsvollen Stellungen huldigten. Das jüngste Kind trat wohlaufgeputzt hervor, und hielte eine Rede in sehr mittelmäßigen Versen welche die ganze Familie und sogar den Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Tränen bewegte. Wie mächtig sind Lokalumstände auf die Herzen der Menschen, und wie rührend ist eine Feierlichkeit, wenn sie auch nicht in dem besten Geschmacke angestellt ist.

                                                2.Kapitel

    Nach einigen Tagereisen kam die Gesellschaft in eine mittelmäßige Stadt, wo ihre Verbindung aufhörte, ihr Fuhrmann wieder zurück ging, wo sie ausruhen und ihre Geschäfte betreiben wollten.

    Wilhelm gab seine Empfehlungsschreiben ab, und mahnte mit ungleichem Erfolge mehrere Personen seines Verzeichnisses. Einige zahlten, einige entschuldigten sich, andere nahmen's übel, andere leugneten. Nach seinem Auftrag sollte er gewisse Herrn verklagen, er mußte deswegen einen Advokaten aufsuchen und denselben instruieren. Diese Arbeit lag ihm so sauer auf, als man es sich nur denken kann, doch war er gewissenhaft, und wollte es gerne recht machen.

    Die Gesellschaft in die er gezogen wurde unterhielt ihn nicht besser. Gute Leute die sechs Tage der Woche ordentlich hingingen, sich des Sonntags was Rechts zu Gute taten, und außerdem jeden Abend mit Billard oder Lombeer in einem geschlossnen Kränzchen zubrachten! Dies waren auch die Feierlichkeiten womit sie ihn bewirteten, und man kann sagen, daß sie ihr Bestes dabei taten, ohne einen Augenblick zu zweifeln, ob ihr Gast sich eben so sehr in ihrer Gesellschaft als sie sich in der seinigen vergnügten. In seinem Wirtshause gefiel es ihm noch am besten, denn da ging es lustig zu und gab allerlei Veränderungen, die ihn interessierten. Eine große Gesellschaft von Seiltänzern, Springern, Gauklern, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit einer großen Anzahl Weiber und Kinder eingezogen, und machten, indem sie sich auf eine öffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug über den andern. Bald stritten sie sich mit dem Wirte, bald unter sich selbst, und wenn ihr Zank unleidlich war, so war das Bezeigen ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich. Auf dem Markte sah er ein weitläufiges Gerüste aufgeschlagen, die Schwingbretter angebracht, die Pfosten zu dem Schlappseile befestigt, und die Böcke zu dem straffen Seile zurechte gestellt. Den andern Morgen ging der Zug fort, durch den die Stadt von dem Schauspiele benachrichtigt werden sollte, das man ihr bereitete. Vorauf ein Tambour und der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe mit einem Kinde vor sich, wohl mit Bändern und mit Flindern herausgeputzt, darauf Paar und Paar die übrige Truppe zu Fuße, die Kinder in abenteuerlichen Stellungen auf ihren Schultern. Palliaßo lief unter der andrängenden Menge drollig hin und her, und teilte mit sehr begreiflichen Spaßen, indem er bald ein Mädchen küßte, bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus, und erweckte unter dem Volke eine unüberwindliche Begierde ihn diesen Abend näher kennen zu lernen. In den gedruckten Anzeigen waren die mannichfaltigen Künste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narciß, und einer Mademoiselle Landerinette herausgestrichen, welche beide als die Hauptpersonen des Stückes die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch ein vornehmeres Ansehen zu geben, und größere Neugier zu erwecken. Der Abend kam herbei, Wilhelm wurde in ein Haus geführt, wo große Gesellschaft versammelt war, und um die angezeigte Stunde füllte sich bald der Platz mit Volk, und die Fenster mit Leuten einiger Art.

    Palliaß bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten, worüber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und zur guten Laune vor. Einige Kinder mit seltsamen Verrenkungen, erregten bald Verwunderung bald Grausen bald Mitleiden, weit mehr Vergnügen aber der Anblick, wenn die rüstigen Springer, bald hinter einander, bald alle zusammen, vorwärts und rückwärts sich in der Luft überschlugen. Ein lautes Händeklatschen und Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung. Nun wurde die Aufmerksamkeit auf einen andern Gegenstand gewendet, die Kinder eins nach dem andern mußten das Seil betreten, die ungeschicktesten zuerst, damit die Zeit ausgedehnet und die Schwierigkeit der Kunst sichtbar würde. Es zeigten sich auch einige von den Springern, und eine erwachsene Frauensperson mit ziemlicher Geschicklichkeit; allein es war noch nicht Monsieur Narciß, noch nicht Mademoiselle Landerinette. Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt ausgespannter roter Vorhänge hervor und erfüllten durch ihre angenehme Gestalt, und zierlichen Putz die bisher glücklich genährte Hoffnung der Zuschauer. Er, ein leichtes munteres Bürschchen von mittlerer Größe, schwarzen Augen, und sehr vielen Haaren, sie nicht weniger niedlich, doch stark gebildet, wechselten sich auf einem Seile mit leichten Bewegungen, kühnen Sprüngen und seltsamen Posituren ab; ihre Leichtigkeit, seine Verwegenheit, die Präzision, womit beide ihre Kunststücke ausführten, erhöhete mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnügen. Der Anstand, womit sie sich betrugen, die anscheinende Bemühung der andern um sie, gab ihnen das Ansehen, als Herrn und Meister der ganzen Truppe, eines Ranges, dessen sie jeder wert halten mußte. Die Begeisterung teilte sich vom Volke den Zuschauern in den Fenstern mit, die Damens sahen nach Narcißen, die Herren nach Landerinetten, das Volk jauchzte und das feinere Publikum enthielte sich nicht des Klatschens, kaum daß man noch über Palliaßen lachte. Die Freude, und der Zauber ward so groß, daß jeder vergaß sich wegzuschleichen, als einige von der Truppe, um Geld zu sammeln, sich mit zinnernen Tellern durch die Menge drängten. Sie haben ihre Sache gut gemacht, sagte Wilhelm zu seinem Reisegefährten, der bei ihm am Fenster stund. – Mit unter, versetzte der andre, das Mädchen ist ein wackeres frisches Ding. – Sie haben alles gut gemacht, sagte Wilhelm, ich bewundre ihren Verstand womit sie auch geringe Kunststückchen nach und nach und zur rechten Zeit angebracht, geltend zu machen wußten, wie sie von den einfachsten, ja sogar von den Ungeschicklichkeiten ihrer Kinder anfingen und bis zu den zusammengesetztesten künstlichsten ihrer Virtuosen fortfuhren. – Der Gefährte war nicht Wilhelms Meinung, sondern versicherte vielmehr, es sei unerträgliches langweiliges Zeug von Kleinigkeiten, die zu nichts nützten als die Zeit zu verderben; sie hätten ihre guten Kunststücke nach einander weg machen sollen, so wäre in einer Viertelstunde die Sache abgetan gewesen. – Glauben Sie dann, versetzte Wilhelm, daß das Publikum und die Leute dabei ihren Vorteil finden, ist's nicht einem jeden darum zu tun, eine Zeitlang abwechselnd unterhalten zu werden, und diesen ihre Kunststücke in dem vorteilhaftesten Lichte zu zeigen – Es ist ein Schlendrian und Handwerksgebrauch, ich habe es noch bei allen so gesehen – Es sei dem wie ihm wolle, sagte Wilhelm, so hat die Natur und die Erfahrung sie die besten Regeln gelehrt, und wann sie die einigen Tage, die sie hier bleiben, immer so stufenweise fortfahren, und heben, wie ich überzeugt bin, ihre besten Stücke zuletzt auf, so müssen sie eine große Wirkung tun und viel Geld gewinnen, welchen Geist und welchen Geschmack ich manchem Schriftsteller wünschte – Der Fremde, dem mit solchen abstrakten Gesprächen nicht gedient war, fing an die Reize Landerinettens durchzugehen, indes Wilhelm ihre Kunstfähigkeiten bestimmt auseinander setzte.

    Wilhelm hatte ganz recht gemutmaßet, denn den zweiten Tag war ihre ganze Kunst im Steigen. Die Anfänge, wenn ich so sagen darf, ließen sie ganz weg, doch ging alles in derselben Ordnung wie den vorigen Tag, sie machten einige neue kompliziertere und gefährlicher scheinende Kunststücke mehr, die Spaße des Palliaß waren dieselbigen, nur schienen sie immer mehr Wirkung zu tun, je mehr sie wiederholt wurden. Und wie uns ein denkender Mann gesagt, daß Übelstand ohne Schmerz, Größe ohne Stärke, tiefe Quellen des Lächerlichen sind, so kann man hinzusetzen, daß vorsetzliche Ungeschicklichkeit, Ungeschicktes mit verborgener Kraft einen höchst komischen, und angenehmen Eindruck machen.

    Eben so schnell stieg auch der Enthusiasmus für Herrn Narciß und Mamsell Landerinette, das Jauchzen, das Klatschen, das Bravorufen ward allgemein, und immer allgemeiner, die Beutel taten sich auf und die Einnahme war ansehnlich. Ein Fremder, der mit am Fenster war, bedaurte, daß ein gewisses Kind nicht mehr bei der Truppe sei, das verschiedene Kunststücke mit großer Geschicklichkeit und besonders den Eiertanz, so schön als er ihn niemals gesehen, ausgeführt hätte. Die Künstler verließen, da es Nacht werden wollte, das Gerüste, und wurden von dem zudringenden Volke im Triumphe nach Hause gebracht.

    Den dritten Tag, da die Anzahl der Menschen, durch den Zulauf aus den benachbarten Ortschaften, außerordentlich zugenommen hatte, rollte sich auch der Schneeball des Beifalls immer größer. Der Sprung über die Degen, durch das Faß mit den papiernen Böden, und was alles dazu gehört, brachte die Menge außer sich. Der starke Mann ließ zum allgemeinen Grausen, Entsetzen und Erstaunen, indem er sich mit dem Kopfe und den Füßen auf ein Paar auseinander geschobne Stühle legte, auf den hohlschwebenden Leib einen Amboß stellen und darauf von drei wackeren Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden.

    Die sogenannte Herkulesstärke, wo eine Reihe Männer sich andern auf die Schultern stellen, und diesen wieder andre, so, daß es zuletzt eine lebendige Piramide wird, die ein Kind, auf dem Kopf stehend, gleichsam als ein Knopf und Wetterfahne schließt, war noch nie in diesen Gegenden gesehen worden, und endigte würdig das ganze Schauspiel. Herr Narciß und Mamsell Landerinette ließen sich in Tragesesseln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter dem lauten Freudengeschreie des Volkes tragen. Man warf ihnen Bänder, Blumen, Sträuße und seidene Schnupftücher zu, und drängte sich sie recht in das Gesicht zu fassen. Jedermann schien glücklich sie anzusehen und von ihnen eines Anblickes gewürdigt zu werden.

    Welcher Schriftsteller, welcher Schauspieler würde nicht glücklich sein, wenn er einen solchen allgemeinen Eindruck erregte, welche köstliche Empfindung müßte das werden, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle, eben so allgemein durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, und ein solches Entzücken dadurch unter den Menschen erregen könnte, wo diese Leute es durch ihre sichtbaren Stücke getan haben; wenn man dem Volke oder den Besten daraus das Mitgefühl alles Menschlichen geben und sie mit der Vorstellung des Glückes und Unglückes, der Weisheit und Torheit, des Unsinnes und der Albernheit entzünden und erschüttern und ihr stockendes Innere in Bewegung setzen könnte! Denn möchte vielleicht das vorgehen, was der alte Philosoph von dem Trauerspiele verspricht, daß es die Leidenschaften reinige. Mit solchen Gedanken unterhielte sich Wilhelm als er nach Hause ging, nachdem er sich in der ganzen Gesellschaft vergebens nach einem Menschen umgesehen hatte, dem er diese Betrachtungen hätte mitteilen können.


                                                3.Kapitel

    Als Wilhelm in den Gasthof kam, traf er Herrn Narciß, auf dem Vorsaal stehend an, und ersuchte ihn einen Augenblick mit ihm auf die Stube zu kommen. Er fand an ihm einen guten muntern Purschen, der mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine Schicksale erzählte, und nichts weniger als Herr von der Truppe war. Als ihm Wilhelm zu seinem Sukzesse glückwünschte, nahm er es mit ziemlicher Gleichgültigkeit auf. Wir sind es gewohnt, sagte er, daß man über uns lacht, und unsere Künste bewundert, aber wir werden durch einen außerordentlichen Beifall um nichts gebessert denn der Entrepreneur zahlt bei guter wie bei schlechter Einnahme jedem seine bestimmte Gage fort.
    Wilhelm erkundigte sich nach verschiedenem, das der andre alles pünktlich beantwortete und zuletzt eilig tat und sich beurlaubte. – Wo wollen Sie denn so schnell hin, Monsieur Narciß, sagte Wilhelm. – Der junge Mensch lächelte und gestand, seine Figur und Talente haben ihm einen Beifall zugezogen, an dem ihm mehr gelegen sei, er habe von einigen Frauenzimmern in der Stadt zärtliche Billets erhalten und sei auf diesen Abend und diese Nacht dringend eingeladen. Er fuhr fort mit der größten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzählen, und hätte Namen, Straßen und Häuser angezeigt, wenn nicht Wilhelm, der sich vor einer solchen Indiskretion entsetzte, es abgelehnt und ihn entlassen hätte.

    Sein junger Reisegefährte hatte inzwischen Mamsell Landerinetten unterhalten, und gab bei dem Abendessen nicht undeutlich zu verstehen, mit was für Hoffnungen sie ihm geschmeichelt habe.

    Es verstrichen noch einige Tage die Wilhelm mit Einkassieren verschiedener Schuldposten zubrachte, und ob er gleich nicht mit Schärfe verfuhr, sehr gütig und nachsichtig war, so glückte es ihm doch, und er hätte, mit dem was er zu Hochstädt erhalten, beinahe fünfzehn hundert Taler eingenommen. Davon Wernern im nächstem Briefe Nachricht zu geben und ihm den größten Teil zu überschicken, machte ihm eine außerordentliche Freude. Er empfahl sich auch einigen Handelsleuten, denen sein Wesen so wohl gefiel, daß sie Bestellungen machten die er sorgfältig notierte. Endlich fand er vor gut seine Reise weiter fortzusetzen, und weil hier seine Gesellschaft sich zerschlagen hatte, nahm er eine Postschäse, packte seinen Koffer auf und fuhr bei guter Zeit ab, um vor Nacht auf der nächsten Station anzulangen.

    Die Zeit war ihm unter allerlei Gedanken verstrichen, die Nacht kam herbei und er merkte, da der Postillion seinen Weg in dem Walde, in den sie geraten waren, bald hier bald dorthin nahm, daß er den rechten mögte verloren haben. Er fand es auch wirklich so als er sich darnach erkundigte, doch versicherte der Schwager, er könne nicht weit von dem Orte seiner Bestimmung ab sein. Es war tief in der Nacht als sie bei einem Dorfe anlangten, und sich um die Gegend erkundigten. Sie waren ganz und gar von der Straße abgekommen, und indem sie sich von ihr in einem fast rechten Winkel entfernt hatten, lag die Station wo sie hin wollten, wohin noch überdies kein grader Weg ging, auf sechs Stunden ab, und Wilhelm verlangte daß der Postillion die Nacht über hier bleiben und ihn des andern Morgens dorthin bringen sollte. Der Postillion bat dringend, daß er ihn gerade nach Hause wieder zurückkehren lassen möge, er sei noch neu im Dienst, und habe, weil er die Pferde so abgetrieben, alles von seinem Herrn zu befürchten, er wolle sagen, daß er ihn auf die nächste Station geliefert, und hoffe mit dieser Lüge durchzukommen, dafür wolle er ihm gegen ein Billiges einen alten Reisewagen des Pfarrers und Bauernpferde verschaffen, um die er sich schon erkundigt, diese könnten ihn an den nächsten Ort, welches eine ansehnliche Landstadt sei, und nur drei Stunden von hier liege, morgen früh bei Zeiten bringen, wo er alsdann wieder Postpferde nehmen, und ohne Beschwerlichkeit in seine Route einfallen könnte. Der Wirt redete ihm selbst zu und weil er gutmütig war so ließ er es geschehen.

    Des andern Morgens als ihn sein neuer Fuhrmann gegen die Stadt brachte und er sie liegen sah, hörte er von demselben, daß eine starke Garnison drinne sei und daß man an den Toren scharf examiniere. – Es kommt mir immer wunderbar vor, sagte Wilhelm bei sich selbst, wenn ich meinen Namen angeben und mich Meister nennen soll, ich täte wahrlich besser mich Geselle zu heißen, denn ich fürchte immer ich werde in dem Gesellenstande stecken bleiben.

    Ich werde es auch zum Scherze tun, besonders da ich niemanden kenne, und niemanden zu besuchen habe. Der Name ist nicht wohlklingend aber bedeutend, übersetzt kläng er auch besser, doch wir wollen bei unsrer Muttersprache bleiben. Er kam unter das Tor und wurde so aufgeschrieben. Es war noch früh als er vor dem Gasthofe anlangte, der Wirt sagte ihm, daß seine meisten Zimmer von einer Truppe Komödianten, die sich hier befinden, genommen seien, doch werde er noch ein ganz artiges Stübchen vor sich finden das in den Garten gehe. – Muß mich denn das Schicksal, rief Wilhelm heimlich aus, immer zu diesen Leuten führen, mit denen ich doch keine Gemeinschaft haben will noch soll. Er antwortete dem Wirt daß er kein Zimmer brauche, daß er nur einen Augenblick abtreten und alsdann Postpferde fordern wolle um sogleich weiter zu gehen.
An den Torpfosten war der gestrige Komödienzettel noch angeschlagen und zu seiner größten Verwunderung fand er den Namen von Herrn und Frau Melina drauf – Ich muß ihnen doch einen guten Morgen sagen, dachte er, und indem kam ein junges Geschöpf die Treppe herunter gesprungen, das seine Aufmerksamkeit erregte. Ein kurzes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln und weiten Beinkleidern stund dem Kinde gar artig, lange schwarze Haare hatte es, in Locken und Zöpfe um den Kopf gewunden. Er sah es scharf an, und konnte nicht gleich einig werden, ob er es für einen Knaben oder für ein Mädchen halten sollte, doch entschied er sich bald für das letztere, und grüßte als sie bei ihm vorbei kam, mit einem guten Morgen diese Erscheinung, fragte, ob etwa Herr und Frau Melina schon aufgestanden wären? Mit einem schwarzen scharfen Seitenblick sah sie ihn an, indem sie an ihm vorbei und in die Küche lief ohne zu antworten. Er schickte den Wirt hinauf und trat gleich nach ihm in die Stubentüre.


                                                4.Kapitel

    Madame warf, indem er hereintrat, einen weißen Mantel um, ihre tiefe Nachtkleidung zu verbergen, der Gemahl zog seine heruntergefallene Strümpfe hinauf und die Nachtmütze vom Kopfe. Man wollte einen Stuhl frei machen, ihn dem Hereintretenden anzubieten, aber der Tisch, das Bett, selbst der Ofen und das Fenstergesimse faßten nichts mehr. Man war sehr vergnügt sich wieder zu finden und Madame Melina besonders verbarg nicht ihre Absicht auf Wilhelms Achtung, sie machte einigen Anspruch auf Witz, Poesie und was darzu noch weiter gehören mag. Sie war ehemals während ihres verlängerten ehelosen Standes das Orakel ihres kleinen Städtchens, und die Anmaßung womit sie sich Wilhelmen gegenwärtig zeigte, ließ sie freilich in keinem so vorteilhaften Lichte sehen, als wie sie damals im Glanze des Unglückes erschien. Ihre Bemühungen ließen Wilhelm kalt, oder vielmehr, er bemerkte sie ganz und gar nicht. Man führte Beschwerde über die Direktrice, denn es war eine Frau, die diese Truppe zusammenhielt, man schalt sie als eine üble Wirtin, die in guten Zeiten nicht zurücklege, vielmehr mit einem von der Truppe, den sie sich zum Günstling ausersehen, alles vertue, und wenn denn schlimme Wochen einfielen, genötigt sei zu versetzen, und ihren Akteurs das Versprochene dennoch nicht bezahlen könne. Ja sogar glaube man, sie habe noch außerdem Schulden und es stehe nicht zum besten mit ihr, man müsse sich vorsehen. Wilhelm erinnerte sich unter den Reden der sonderbaren Figur die ihm begegnet war und fragte nach ihr. Wir wissen selbst nicht, sagte Madam Melina, was wir aus dem Kinde machen sollen. Vor ohngefähr vier Wochen war eine Gesellschaft Seiltänzer hier die sehr künstliche Sachen zeigte. Unter andern war auch dieses Kind dabei, ein Mädchen das alles recht gut ausführte, besonders tanzte sie den Fandango allerliebst und machte verschiedene andere Kunststücke mit vieler Geschicklichkeit und Anstand doch war sie immer still, wenn man mit ihr sprach oder sie lobte, oder sie um etwas fragte. Eines Tages kurz vor der Abreise hörten wir einen erschröcklichen Lärm unten im Hause. Der Herr von dieser Truppe schalt entsetzlich auf das Kind das er zur Stube hinaus geworfen hatte, und das in der Ecke des Saales unbeweglich stand. Er verlangte mit Heftigkeit etwas von ihm, das es, wie wir aber hörten, zu tun sich weigerte.

    Er holte darauf eine Peitsche und schlug unbarmherzig auf das Kind zu, es rührte sich nicht, verzog das Gesicht kaum, und es überfiel uns ein Mitleiden, daß wir herunter liefen und uns in die Sache mischten. Der ergrimmte Mann schalt nunmehr auf uns, schlug immer zu, bis er endlich von uns aufgehalten, seinen Unwillen in einen ungeheuren Strom von Worten ausgoß. Er schrie, stampfte, und schäumte, und soviel wir verstehen konnten hatte das Kind sich geweigert zu tanzen und war weder mit Bitten noch mit Gewalt zu bewegen gewesen. Es sollte auf das Seil, es tat es nicht, viele hundert Menschen waren herbei gelaufen, den angekündigten Eiertanz zu sehen, man forderte ihn laut, aber vergebens. Der Unternehmer ward rasend, da das Publikum unwillig auseinander ging und unter diesem Vorwande nicht bezahlte. Ich schlage dich tot, rief er aus, ich lasse dich auf der Straße liegen, du magst auf dem Miste sterben, du sollst von mir keinen Bissen mehr nehmen! – Unsere Direktrice die dabei stund und lange ein Aug auf das Kind gehabt hatte, weil das Mädchen, welche sonst die Fiamette in der Gouvernante spielte, ihr vor kurzem entführt worden war und uns auch ein Kammermädchen abging, wozu sie es zu brauchen glaubte, war gleich mit ihren gewöhnlichen Kunstgriffen hinter dem erzürnten Manne her, und suchte ihn zu überreden das Beste sei, er gäbe das Kind weg. Sie erreichte auch ihre Absicht und in der ersten Hitze überließ er das Geschöpf mit der Bedingung, daß man eine gewisse Summe für ihre Kleider bezahlen sollte, die ziemlich hoch angeschlagen waren. Madam de Retti nicht faul bezahlte das Geld auf der Stelle, und nahm die Kleine mit auf ihre Stube. Es verging keine Stunde, als es den Seiltänzer reute und er das Kind wieder haben wollte. Unsere Prinzipalin wehrte sich tapfer, sie drohte daß wenn er noch einen Augenblick drauf bestünde, so wollte sie seine Grausamkeit gegen das Kind bei dem Oberamtmann anzeigen, der ein sehr gerechter und strenger Mann sei, und er sollte gewiß nicht mit heiler Haut davon kommen; dadurch ließ er sich abschröcken, und nach einigem Wortwechsel blieb das Kind unser. Es hatt uns aber schon hundertmal gereut daß wir uns der Kreatur angenommen haben. Sie ist uns zu gar nichts nütze. Auswendig lernt sie sehr geschwind, spielt aber erbärmlich. Es ist nichts aus ihr zu bringen. Sie ist sehr dienstfertig tut nur eben das nicht was man von ihr verlangt; wir hätten sie hundertmal selbst prügeln mögen. Den ersten Morgen als sie bei uns geschlafen hatte, kam sie in den Knabenkleidern, in denen Sie sie gesehen haben, hervor, und ist bisher nicht zu bewegen gewesen, sie abzulegen. Als unsere Direktrice sie halb im Scherze, und halb im Ernste fragte, wie sie nun das ausgelegte Geld wieder ersetzen wollte, antwortete sie: ich will dienen! Und von der Zeit an leistet sie unverlangt der Direktrice, und der ganzen Gesellschaft alle Dienste, auch die niedrigsten mit einer Eile, einer Pünktlichkeit, mit einem guten Willen, der uns wieder mit ihrem halsstarrigen Wesen mit ihren schlechten Talenten zum Theater aussöhnt. Wilhelm verlangte sie näher zu sehen, und Melina ging sie zu holen. – Du hast dem Herren, sagte Frau Melina als das Kind hereintrat, diesen Morgen nicht gedankt. Es blieb an der Türe stehen, als wenn es gleich wieder hinausschlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust, und die linke vor die Stirne und bückte sich tief. Tritt näher liebe Kleine, sagte Wilhelm. Sie sah ihn mit unsicherm Blick an, und kam herbei.

    Wie nennst du dich? fragte er. – Sie heißen mich Mignon, antwortete sie. – Wie viel Jahre hast du? – Es hat sie niemand gezählt. – Wer war dein Vater? – Der große Teufel ist tot – Die letzten Worte erklärte man ihm, daß ein gewisser Springer, der vor kurzem gestorben und sich den großen Teufel nannte, für ihren Vater sei gehalten worden. Sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer Art vor, die Wilhelmen in Verwirrung setzte, dabei legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt, und neigte sich tief.

    Was soll nun diese Gebärde bedeuten, sagte Frau Melina, das ist wieder etwas neues, so hat sie alle Tage etwas sonderbares. – Sie schwieg und Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre. Ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Knöchel und Gelenke einen stärkern Wachstum versprachen, oder einen zurückegehaltnen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig aber auffallend, ihre Stirne kündigte ein Geheimnis an, ihre Nase war außerordentlich schön und der Mund, ob er schon ein wenig aufgeworfen war, und sie manchmal mit demselben zuckte, doch noch immer treuherzig und reizend. Ihre Gesichtsfarbe war bräunlich, mit wenigem Rot ihre Wangen besprengt, überhaupt von der Schminke sehr verdorben, die sie auch itzo nicht anders als mit dem größten Widerwillen auflegte. Wilhelm sah sie noch immer an, und schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seiner Betrachtung. Frau Melina weckte ihn indem sie dem Kinde ein Zeichen gab, das nach einem Bücklinge wie oben blitzschnell zur Türe hinausfuhr.

    Wilhelm konnte diese Gestalt nunmehr nicht los werden. Er hätte gerne immer fort gefragt, und immerfort von ihr erzählen hören, als Frau Melina es nun für genug hielte und das Gespräch auf ihr eigen Talent, Spiel, und Schicksal brachte.
                                                5.Kapitel

    Es war bald beschlossen das Wilhelm heute bleiben, die Bekanntschaft der Direktrice, und der übrigen Gesellschaft machen, darauf diesen Abend die Komödie ansehen sollte, morgen früh bei Zeiten könne er abfahren. Die Reizung war zu groß als daß er lange hätte widerstehen können, ob er gleich im Anfange einige Schwierigkeiten machte; denn er hatte Wernern versprochen einen gewissen Tag in einer benannten Stadt zu sein. Dieser Termin ruckte heran; er hatte sich an dem letzten Orte schon länger als er sollte aufgehalten, durch den Irrtum des Postillions war er wieder verspätet worden. Des Gehorsames und der Ordnung von jeher gewohnt, hielte er Pflicht und Versprechen um seiner selbst willen heilig, weil er sich nur achtete insofern er sie erfüllte. Doch seine Neigung überwog alles, er blieb mit dem festen Vorsatze morgen ganz früh wegzureisen. Madame Melina bat ihn zu Tische, er lud sie nebst ihrem Manne auf sein Zimmer, bestellte das Essen, und als ihn der Wirt nach seinem Namen fragte den er Abends bei dem Kommandanten einzureichen verpflichtet war, gab er sich hier an, wie er sich im Tore genannt hatte, und bat seine Freunde ihn auch so zu nennen, und seinen bekannten Namen zu verschweigen. Bei Tische ging es sehr lustig zu. Madame tat alles Mögliche zu gefallen, ihr Ehegatte machte mit unter einen trocknen Spaß und Wilhelmen, dem es zum erstenmale seit langer Zeit ganz frei ums Herz wurde, war offen lebhaft und unterhielte sich mit vielem Feuer von seinen Materien. Man ließ sich den Wein der durch einen Zufall gut war schmecken, und vergaß des Aufstehens.

    Es fehlte Madam Melina nicht an einer Art von Verstand, nur war ihr Geist und Witz nicht ausgebildet. Sie fand manchmal das Gute, doch oft fiel sie aus dem Übertriebenen in das Gemeine. Die Epoche ihrer ersten vorzüglichsten Bildung war in die Zeit der Bremischen Beiträge gefallen, sie hatte ihre Partie wider Gottscheden genommen, und war auch meistens da stehen geblieben, außer daß Leßings Stücke, die von Zeit zu Zeit auf dem Theater erschienen, ihrem Geiste wieder eine andere Wendung gegeben hatten. In ihrem ledigen Stande war sie in Gelegenheitsgedichten und Madrigalen nicht unglücklich gewesen und der Truppe hatte sie einige Prologe geschrieben und mit großem Beifall vorgebracht. Sie rezitierte ihrem Wirte einen und den andern, der daran lobte was zu loben war. Keine fremde Sprache kannte sie, keine auswärtige Literatur und also war ihr Kreis ziemlich enge. Er durfte noch viel enger sein und Wilhelm hätte sie in seiner Unschuld für ein ausgebreitetes Genie gehalten, denn sie war das, was ich mit Einem Worte eine Anempfinderin nennen mögte. Sie wußte jemanden um dessen Achtung es ihr zu tun war, mit einer besondern Aufmerksamkeit zu schmeicheln, in seine Ideen, so lang es reichte, einzugehen, so bald sie über ihren Horizont waren, mit Ekstase eine solche ihr neue Erscheinung aufzunehmen, sie verstand zu fragen, zu schweigen und, ob sie gleich kein tückisches Gemüt hatte, mit großer Vorsicht aufzupassen, wo des andern schwache Seite sein mögte. Tue man hinzu, daß sie, obgleich nicht mehr jung, doch wohl erhalten war, freundliche Augen und einen hübschen Mund hatte, wenn sie ihn nicht verzog, so wird man begreifen, das unser Held sich in ihrer Gesellschaft ganz wohl befand. Die Zeit zum Schauspiele kam herbei, ohne daß man die Direktrice gesprochen hatte. Man gab Holbergs Bramarbas. Madam Melina beschwerte sich über die Rolle der Leonore, über das Platte und Geschmacklose des Stückes, an dem das Publikum einen großen Gefallen zeige. Man schied und Wilhelm ging nach der Bude. Er fand gar bald die Akteurs, wie er sie zu sehen schon gewohnt war, meistens Leute die noch in der extemporierten Komödie mitgespielt und sich an einen gewissen individuellen Schritt gewöhnt hatten, in welchem sie sich so sehr gefielen, daß sie auch dieses Stück gleichsam als ein Szenario ansahen, und ihm mit Zusätzen und Possen eine noch breitere Gestalt gaben, als es von Natur hatte. Leonore war so artig als sie heraustrat, ihren Freund sogleich mit den Augen aufzusuchen und einige von denen guten Lehren, über die er sich bei Tische ausgebreitet, sowohl bei dem Rezitieren als in ihren Gebärden nach bester Möglichkeit anzuwenden und zu benutzen. Dies gefiel ihm wohl, und ob sie gleich selten zum Vorscheine kam, vergaß er doch wie gewöhnlich aller übrigen und lobte sie sehr indem er sie nach Hause führte, über ihr Spiel Anmerkungen machte und sie versicherte, daß sie es weit bringen würde, wenn sie aufmerksam auf sich selbst und auf die Kunst sein wollte. Dieser Diskurs ward auf ihrem Zimmer, wohin sie Wilhelm begleitete, fortgesetzt, man vergaß auch diesmal die Direktrice zu besuchen, wie man sich vorgesetzt hatte, und man bemerkte nicht eher daß es spät war, als bis Herr Melina in das Zimmer trat. – Ach! rief sie aus, wie glücklich wäre ich, wenn ich Ihres Unterrichtes genießen könnte! wie viel glücklicher, wenn Sie mich alle meine Rollen spielen sehen könnten! wie wenn ich von Ihnen lernen könnte sie zu spielen!

    Wilhelm zeigte sein Bedauern, man drang auf ihn noch den morgenden Tag zuzugeben, wo nicht gespielt würde, wo nur früh Morgens eine Probe sei, in welcher er Madam de Retti kennen lernen und man sich übrigens den Tag auf das angenehmste unterhalten könne. Die beiden Eheleute wurden dringend und sie besonders tat so artig, so halb vertraut und nahm es zuletzt als unmöglich an, daß sie jetzo von ihm Abschied nehmen könnte, daß es ihm auch ohnmöglich ward, und er zu bleiben versprach.

    Als er auf seine Stube kam und seine Sachen musterte, vermißte er die große lederne Brieftasche, worinnen er alle Dokumente und die zu seinem Geschäfte nötige Papiere mit sich führte. Anfangs erschrak er, doch bald fiel ihm ein, daß er solche habe bei einem Freunde an dem Orte seines letzten Aufenthaltes stehen lassen. Dort waren noch einige Sachen zurückgeblieben, und er hatte gebeten, man mögte sie ihm nachschicken, wenn er seine Ankunft in einer bestimmten Stadt würde gemeldet haben. Er beruhigte sich deswegen bald und dachte, es mag alsdann alles mit einander kommen, der Aufenthalt kann so groß nicht sein.

    Des andern Morgens stieg er früh auf, er fand das ganze Haus noch stille nur Mignon war schon auf dem Gange. Er tat freundlich gegen das Kind, redete es an, fragte verschiedenes. Es sah ihm scharf in das Gesicht, antwortete aber auf keine Frage, und bezeigte nicht die mindeste Rührung, noch Neigung zu ihm. Es schien ganz gefühllos. Endlich griff er in die Tasche und reichte ihm ein Stück Geld, die Gesichtszüge der kleinen Kreatur wurden heiterer, sie schien zu zweifeln und zauderte es zu nehmen, endlich da sie sah daß es Ernst war, fuhr sie hastig zu und besah die Gabe mit einem sichtbaren Vergnügen in ihren Händen. Er gab nachher Frau Melina seine Verwunderung über die starke Neigung des Kindes zu dem Gelde zu erkennen – Ich kann Ihnen dieses Phänomen erklären, sagte sie. Kurz nachdem die Prinzipalin dieses seltsame Geschöpf dem Seiltänzer abgenommen hätte, sagte sie einmal zu ihm: nun bist du mein, du kannst dich nur gut aufführen. – Ich bin dein, versetzte Mignon, ich habe wohl gesehen daß du mich gekauft hast, was hast du bezahlt? Die Prinzipalin sagte aus Scherz, hundert Dukaten, wenn du mir sie wiedergibst, so sollst du frei sein, und hingehen wo du hin willst. – Seit der Zeit merken wir, daß sie Geld sammelt, wir schenken ihr manchmal Pfenninge, und sie hat mir eine große Schachtel mit Kupfergelde aufzuheben gegeben, daß wir auf den Verdacht gekommen sind, sie sammle zu ihrer Ranzion, zumal da sie neulich fragte, wie viel Pfenninge auf einen Dukaten gingen.


                                                6.Kapitel

    Um zehn Uhr fand sich Wilhelm auf dem Theater ein, und die ganze Truppe versammelte sich um ihn. Er sah sich um, und suchte ob er eine Gestalt fände, die ihn anzöge, und glaubte bald in diesem bald in jenem Blicke Teilnehmung zu finden. Madam de Retti die hereintrat zog endlich allein seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr ganzes Wesen war männlich, ihr Gang und Betragen stolz ohne beleidigend zu sein. Die andern stunden als ihre Hofleute um sie herum. Dem Fremden begegnete sie mit Freundlichkeit und Achtung. Während der Probe setzte sie sich zu dem Ankömmlinge um ihn von theatralischen Angelegenheiten zu unterhalten. Dabei war sie unverwendet aufmerksam auf das Spiel der Akteurs. Den einen ermunterte sie durch einen Scherz, mit dem andern ging sie schon nicht so glimpflich um. Die Neulinge in der Kunst wies sie zurechte, und den Eingebildeten sagte sie ein belehrend Wort, ohne sie zu beleidigen oder zu beschämen. In der Stille bedauerte sie, gegen Wilhelmen daß es so wenig Schauspielern Ernst sei, und besonders daß man sie dahin nicht bringen könne, die Proben wichtig zu traktieren. Ihre Gesinnungen hierüber hörte unser Freund sehr gerne weil es die seinigen waren. Ein Schauspieler, sagte er, sollte nichts angelegneres haben als auf das pünktlichste zu memorieren. Schon bei der ersten Probe sollte er seine Rolle ganz auswendig wissen, um als dann die vielerlei Schattierungen, die sie annimmt, sorgfältig zu studieren. Sein Gehen und Kommen, Bleiben und Stehen, sein Tun und Lassen und jede Gebärde sollte er in den verschiedenen Proben verschiedentlich durchdenken, um sich dadurch des Mechanischen zu versichern, daß er bei der Aufführung sich ganz seinem Herzen, seiner Laune und dem Glück überlassen könnte. Dadurch würde auch eine Manichfaltigkeit in sein Spiel kommen, daß ein Stück bei mehreren Vorstellungen den Zuschauern immer neu bliebe. Wie verschieden kann der Sänger eine einzige haltende Note, einen einzigen Gang ausdrücken, ohne aus dem Charakter der Arie hinauszugehen, wenn er Methode hat und abwechselnde Manieren mit Geschmack anzuwenden weiß. Eben so ist es auch mit den Rollen, wo ein eingeschränkter Akteur nur Ketten und Banden, ein kluger und gewandter Schauspieler aber eine freie Laufbahn erblickt.

    Madam de Retti war sehr erfreut, die guten Lehren, welche sie so oft ihren Schauspielern und meist vergebens geprediget, aus dem Munde des Dritten zu hören. Das Gespräch wurde lebhafter und Wilhelm war schon von ihren großen theatralischen Einsichten ganz bezaubert. Man vergaß der Probierenden zu nicht geringem Verdrusse der Madam Melina die sich unter ihnen befand, und die Aufmerksamkeit ihres neuen Freundes von sich abgelenkt sah. Wilhelm war nunmehro ganz in seinem Elemente, und fast das erstemal in seinem Leben im Gespräch über seine Lieblingsmaterie mit einer Person, die darinne weit bekannter war als er, die durch ihre Erfahrung das bestätigen, ausbreiten, berichtigen konnte, was er sich in seinem Winkel ausgedacht hatte. Wie vergnügt war er, wenn er mit ihr zusammentraf, wie aufmerksam, wenn ihm etwas neues aufstieß, und wie sorgfältig im Fragen und im Zergliedern, wenn sie mit ihm nicht einer Meinung war. Sie berief sich im Gespräche auf verschiedene Stücke, die er von ihr und ihrer Truppe sollte aufführen sehen.

    Seine Zweifel waren geschwinder als gestern gehoben, er versprach noch einige Tage da zu bleiben, und überlegte bei sich selbst, seine Reise sei ja ohne dies willkürlich und eine Woche auf oder ab würde an denen Schuldforderungen, die nunmehro schon Jahre stehen, nicht viel verschlimmern. Er überließ sich ganz seiner Neigung, und in der Gesellschaft beider Frauen, mit Gesprächen, Lesen, Rezitieren, mit dem Besuche des Schauspieles und der Unterhaltung darüber verstrich eine Woche, und noch eine ehe er es bemerkte.

    Ehe der Mensch sich einer Leidenschaft überläßt, schaudert er einen Augenblick davor, wie vor einem fremden Elemente; doch kaum hat er sich ihr ergeben, so wird er, wie der Schwimmer von dem Wasser, angenehm umfaßt und getragen, er befindet sich in dem neuen Zustande wohl, und gedenkt nie eher an den festen Boden, bis ihn die Kräfte verlassen oder der Krampf ihm droht ihn unter die Wellen zu ziehen.

    Auch ward ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender. In allem seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern es sprang, es stieg auf den Geländern der Gänge weg und ehe man sich's versah, saß es oben auf dem Schranke und blieb eine ganze Weile ruhig. Auch hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden eine besondere Art von Gruß hatte, und seit einiger Zeit grüßte sie ihn mit beiden über die Brust geschlagnen Armen. Manche Tage antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen und immer sonderbar; doch konnte man nicht unterscheiden, ob es Witz oder Mangel des Ausdruckes war, indem sie ein gar gebrochenes, mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach. In seinen Diensten war es unermüdet, früh mit der Sonne auf, Abends verlor es sich zeitig und Wilhelm erfuhr erst spät, das es in einer Dachkammer auf der nackten Erde schlafe und durch nichts zu bewegen sei ein Bett oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft daß sie wusch und sie war immer reinlich gekleidet, obgleich fast alles doppelt und dreifach an ihr geflickt war.

    Man sagte ihm auch daß sie alle Morgen ganz frühe in die Messe ging; und da er nach einem sehr frühen Spaziergang, den er gemacht hatte, bei der Kirche vorbeiging und hineintrat, so fand er sie in einer Ecke bei der Kirchtüre mit ihrem Rosenkranze knien und sehr andächtig beten. Sie bemerkte ihn nicht, er ging nach Hause und machte sich tausend Gedanken über diese Gestalt und konnte sich nichts bestimmtes dabei denken.


                                                7.Kapitel

    Da man zusammen in einem Hause wohnte und Gelegenheit hatte, sich jederzeit zu sehen, wurde man bald vertrauter, und die beiden Frauens nahmen Wilhelmen in die Mitte, jede suchte ihn anzuziehen, jede fand ihn angenehm, und daß man spürte er habe Geld und sei nicht karg, sprach sehr mit zu seiner Empfehlung. Er, ohne daß die mindeste Zärtlichkeit sich in seine Empfindung gemischt hätte, befand sich zwischen beiden Weibern sehr behaglich. Madame de Retti erweiterte seinen Geist und vermehrte seine Kenntnisse, indem sie ihm von sich, ihren Talenten, Unternehmungen, und Schicksalen sprach. Madame Melina zog ihn an, indem sie von ihm zu lernen, und sich nach ihm zu bilden suchte. Jene erwarb sich unmerklich eine Gewalt über ihn, durch ihren entschiedenen und herrischen Charakter, diese durch ihre Gefälligkeit und Nachgiebigkeit, so daß er bald allein von beider Willen abhing und ihm beider Gesellschaft höchst notwendig wurde. Es währte nicht lang so wurde man bekannter und vertrauter. Wilhelm verschwieg Madam Melina seine Leidenschaft zu Marianen nicht, und fand in einer schmerzhaften Wiederholung seiner Geschichte das größte Vergnügen. Der Prinzipalin entdeckte er die Geheimnisse seiner Autorversuche, rezitierte ihr Stellen aus seinen Stücken die von ihr mit großem Lobe und mit vorteilhaften Vergleichungen aufgenommen wurden. Dagegen hatten sie ihm nichts als ihre Finanzgeheimnisse zu entdecken; dabei jene ganz aufrichtig zu Werke ging, diese aber nicht mehr offenbarte, als sie glaubte, daß rätlich sei.

    Sie hatten sich oft und so weitläufig über das Geistreiche und Vortreffliche der Kunst unterhalten, und in der Ausführung blieben sie leider immer weit zurück. Der Mißstand schlechter und ungehöriger Kleider fiel Wilhelmen, der sehr viel auf Kostüm hielte, am meisten auf. Madame Melina zuckte die Achseln und gestand ihm daß ihre besten Sachen und zwar für eine Kleinigkeit von fünfzig Talern versetzt seien, wovon die Juden ihr nur zur Not manchmal zu einem Abend der Aufführung ein Stück wieder verabfolgen ließen, welches sie teuer bezahlen müssen. Kaum erfuhr dies Wilhelm als er mit sich zu Rate ging und er fand gar bald Anlaß und Ursache genug, diese Summe an seine gute Freundin zu borgen, besonders, da er durch ihr Versprechen, ihn auf das baldigste wieder zu bezahlen, gesichert ward.

    Der Pfandinhalter wurde herbei gerufen, es fanden sich auch noch einige Sachen des Herrn Gemahls dabei, es waren Interessen zu berichtigen, so daß es sich über siebenzig Taler belief, die er jedoch gerne hinzahlte. Diese großmütige Handlung blieb, wie natürlich, nicht verschwiegen, und Madame de Retti fand es bequem, auch von diesen Gesinnungen Vorteil zu ziehen. Denn wie wir schon oben gehört haben, stand es wirklich mit ihr auf dem schlimmsten. Sie hatte auf ihrer ganzen Fahrt durch die Welt mit allen ihren Talenten wenig erobert, und nichts gespart. Was sie an großen Orten zu Zeiten des Glückes erworben hatte, ging auch sogleich in lustigem Leben wieder fort. Ihr unruhiger Charakter ließ sie von glücklichen Umständen wenig Vorteil ziehen, und ihr herrschsüchtiges und unbiegsames Wesen konnte sich in bösen Zeiten zum Nachgeben und zur Gefälligkeit nicht herabstimmen. Sie hungerte oft als Prinzipalin wo sie als untergebene Aktrice einer andern Truppe ein reichliches Auskommen hätte finden können.

    Man sprach von verschiedenen Trauerspielen und andern wichtigen Stücken, die man dem neuen Gaste zu Ehren gern gegeben hätte. Man ließ ihn merken daß er sowohl Kenner als Liebhaber und Beschützer des Theaters sei; man wiederholte es von allen Seiten und wußte es so zu bringen, und zu legen, daß er sich endlich entschloß, auch hier der bedrängten Schauspielkunst die er so oft in Prologen durch den Apollo hatte beschützen sehen, in eigener Person zu Hülfe zu kommen. Er sagte sich vor daß er auf das Geld, welches er einkassieret, auch wieder einiges Recht habe, um es gelegentlich anzuwenden, daß es doch nur wie verloren Geld sei, daß er auf seiner Reise wieder sparen wolle, und daß es ja auch hier sicher genug stehe, indem man ihm die ganze Garderobe zu verschreiben versprach. Es wurde ihm nunmehro ganz leicht seiner bedrängten Freundin dreihundert Taler zuzusagen, und letzt vierhundert Taler auszuzahlen. Herr Melina der zuerst von diesem Handel abzuraten schien, übernahm nunmehro die Legalität desselben, ließ einen Notarius kommen und die Verschreibung in bester Form ausfertigen. Dadurch wurden die gefangenen Helden und Sultanen befreit, die reichen Kleider los, es kam ein Leben unter die Truppe, die Abwechselung ihrer Stücke zog Zuschauer herbei, die Einnahme war stärker als jemals; Wilhelm schoß noch einiges Geld zu um die alten Dekorationen aufzufrischen, man faßte neuen Mut; Madame de Retti, indem sie ihren heimlichen Gläubigern hier, und da etwas abtragen konnte, erhielte wieder Kredit, man aß, man trank, lebte herrlich und in Freuden, versicherte und schwur, daß man in dieser Jahreszeit, der Frühling war schon weit vorgerückt, noch niemals eine so glückliche Theater-Epoche erlebt habe.


                                                8.Kapitel

    Am allerlustigsten ging es zu wenn Wilhelm sie einlud, und auf seine Kosten traktierte, da zeigten sie sich so fröhlich und guten Mutes, als wenn sie den Mangel nicht kennten oder nie zu befürchten hätten. Eines Tages als sie bei einer solchen Mahlzeit saßen, fiel es ihnen ein die Charaktere verschiedener Personen nachzuahmen und ein jeder wählte sich etwas besonderes. Der eine stellte einen Betrunkenen vor, der andere einen pommerischen Edelmann, einer einen niedersächsischen Schiffer, der andre einen Juden, und als Wilhelm und Madam Melina nichts für sich finden konnten, weil sie in der Nachahmung nicht sehr geübt waren, so sagte Madam de Retti scherzend, Sie können nur die Verliebten spielen, denn dies ist wohl das allgemeinste Talent. Sie selbst machte, indem sie einen runden Strohdeckel statt des Hütchens sich auf den Kopf band, eine Tyrolerin auf das artigste, welches um so angenehmer auffiel, als ihre neckischen Einfälle und ihr drolliges Wesen mit der Hoheit die man sonst an ihr gewohnt war, einen gefälligen Kontrast machten. Sie hatten angenommen, als wären sie eine Gesellschaft die sich auf dem Postwagen zusammengefunden, im Wirtshause gegenwärtig abgestiegen, und im Begriffe sei, bald wieder fortzufahren. Ein jeder spannte seine Einbildungskraft an, aus den gemeinen Vorfällen die solchen Gesellschaften zu begegnen pflegen, die merkwürdigsten und komischsten Situationen herauszuziehen, und sie mit mehr oder weniger Geschmack anzuknüpfen, und auszuführen. Man beschwerte sich, man schraubte einander, Vorwürfe, Drohungen, lustige Aussichten und was nur erdenklich war, wurden in Bewegung gebracht, daß Wilhelm zuletzt, dem seine Rolle ohnedem diesmal nicht sehr natürlich war, als Zuschauer herzlich lachte, und der Prinzipalin versicherte, daß ihn lange kein Stück so wohl unterhalten habe.

    Wie leid ist es mir, sagte sie, daß wir um das Extemporieren gebracht sind; es hat mich hundertmal gereut, daß ich selbst mit Schuld daran gewesen, nicht daß man hätte die alten Unschicklichkeiten beibehalten und gute Stücke nicht darneben aufführen sollen. Wenn man nur einmal die Woche extemporiert hätte, so wäre der Akteur in der Übung, das Publikum in dem Geschmack an dieser Art geblieben, und man hätte mancherlei Nutzen herausziehen können, denn das Extemporieren war die Schule und der Probierstein des Akteurs. Es kam nicht darauf an, eine Rolle auswendig zu lernen und sich einzubilden, daß man sie spielen könne, sondern der Geist, die lebhafte Einbildung, die Gewandtheit, die Kenntnis des Theaters, die Gegenwart des Geistes zeigte sich mit jedem Schritt auf das klarste, der Schauspieler war durch die Not gezwungen sich mit allen Resourcen, die das Theater anbietet, bekannt zu machen, er wurde darauf recht einheimisch, wie der Fisch im Wasser, und ein Dichter der Gabe genug gehabt hätte, diese Werkzeuge zu brauchen, würde auch auf das Publikum einen großen Effekt gemacht haben. Allein, ich ließ mich leider von den Kunstrichtern hinreißen, und weil ich selbst ernsthaft war, an Possen und Schwänken keinen Gefallen hatte, und mich glücklich fand, eine Chimene, Rodogune, Zaire, Merope vorzustellen, hielte ich mich und meine Truppe für zu vornehm, als daß ich die Zuschauer, wie bisher, belustigen sollte. Ich verbannte den Hanswurst, begrub den Harlekin, und wenn diesen durch die Umstände erlaubt gewesen wäre, ein eigenes Theater zu errichten, so hätten sie mich als eine Königin, die ihren Minister und General zu Zeit der Not abdankt, und darüber schwachen und platten Widersachern in die Hände fällt, gar trefflich parodieren können. Und welcher deutsche Schriftsteller hat uns bisher für das, was wir hingegeben, entschädigt? Wenn wir die Übersetzung der Molierischen Stücke nicht gehabt hätten, wir hätten uns nicht zu retten gewußt, da unsere besten Original-Schauspiele das Unglück haben, nicht theatralisch zu sein.

    Wilhelm versetzte eins und das andere dagegen, als sie dem Akteur, der den Juden vorstellte und gegen ihr über saß, zurief: nicht wahr Alter, wenn wir Verstand und Glück genug gehabt hätten, unsern Plan zu rechter Zeit auszuführen, so hätten wir den Deutschen ein treffliches Geschenk machen können, das der Grund eines National-Theaters geworden wäre, und von den besten Köpfen hätte benutzt und verfeinert werden können. Wir sprachen oft über die Vorteile der italienischen Masken, über das Interesse, daß jeder einen bestimmten Charakter, Heimat und Sprache hat, über die Bequemlichkeit daß ein Akteur sich in eine einzelne Personnage recht hinein studieren kann und alsdenn, wenn er geistreich immer in gleichem Charakter handelt, statt das Publikum zu ermüden, jederzeit gewiß ist, es zu entzücken. Wir dachten auch etwas auf deutsche Weise in dieser Art hervorzubringen, unser Hanswurst war ein Salzburger, unsern Landjunker wollten wir aus Pommern nehmen, unsern Doktor aus Schwaben, unser Alter sollte ein niedersächsischer Handelsmann sein, wir wollten ihm eine Art von Matrosen als Diener geben, unsere Verliebten sollten Hochdeutsch sprechen und aus Obersachsen sein, und die schöne Leonore, oder wie wir sie nennen wollten, sollte ein Leipziger Stubenmädchen als Columbine bei sich haben. Wir wollten den Schauplatz in Häfen, Handelsstädte, auf große Messen verlegen um diese Leute alle geschickt zusammen zu bringen. Wir wollten selbst einen reisenden Arlekin, Pantalon, Brighella aufführen und durch diese Kontraste unsere Stücke noch mannichfaltiger und reizender machen. Unser Einfall war nur obenhin. Wie vieles hätte man durch Zeit und Muse dazu gewinnen können! Ein jeder neuer Akteur, der zur Truppe gekommen wäre, brachte vielleicht wieder einen neuen Einfall, eine auffallende Nachahmung irgend einer Landesart mit, wie wir denn auch besonders die Juden nicht vergessen hatten. Manche Menschen haben Scherze, die ihrem Individuo besonders wohl anstehen. Die Figuren hätten auch durch irgend einen Fehler, Stottern, Hinken oder was man gewollt hätte, noch eine nähere charakteristische Bestimmung erhalten, und wir glaubten wenigstens damals, wir müßten viel Glück damit machen. Aber leider schlugen unsere Versuche fehl, die wir zum Trutz der Puristen, mit denen wir uns wieder entzweit hatten, dem Publico vortrugen. Man nahm die Besten gegen uns ein, und die ersten Versuche die vor einigen Jahren gewiß Beifall erhalten hätten, fielen gänzlich. Sie leisteten auch das nicht, was wir im Sinne hatten, die Akteurs waren aus der Übung, es fehlte uns an Leuten die Charaktere mannichfaltig zu machen, und wir mußten uns eben zurückziehen, unser Vorhaben aufgeben und dem Strome folgen, in dem wir noch schwimmen. Ich bin nun überzeugt, daß man ohne ein Wunder diese Epoche nicht wieder zurückebringen kann. Wir sind wie Leute, die auf einem unbequemen oder schlechten Weg geraten, aber bei dem allen nicht einmal weit vorwärts sind, um zurücke zu kehren und den andern von Anfange betreten zu können.

    Sie wollte noch verschiedenes hinzufügen, als sie draußen einen großen Lärmen hörten, kurz darauf Mignon zur Türe hineinstürzte und eine fremde Mannsperson ihr drohend folgte.

    Wenn diese Kreatur Ihnen gehört, sagte der Unbekannte, so strafen Sie solche über ihre Ungezogenheit in meiner Gegenwart ab. Sie hat mir ins Gesicht geschlagen, daß mir noch die Ohren sumsen, und der Backen brennt. – Wie kommst du dazu Mignon, fragte Wilhelm? – Mignon, der sich hinter Wilhelms Stuhl ganz ruhig hingestellt hatte, antwortete: ich habe Hände, ich habe Nägel, ich habe Zähne, er soll mich nicht küssen. – Wie, rief Wilhelm aus, mein Herr? allso sind Sie wohl der angreifende Teil? Was berechtigt Sie von dem Kinde zu fordern, was unschicklich ist? – Ich werde wahrhaftig, antwortete der Fremde, mit einer solchen Kreatur keine große Umstände machen sollen. Ich wollte sie küssen, und sie hat sich impertinent aufgeführt, ich verlange Satisfaktion. – Mein Herr, versetzte Wilhelm, dem der Trutz des Fremden das Blut in Bewegung brachte, Sie würden am besten tun, das Kind um Verzeihung zu bitten und ihm für die Lektion zu danken, und so bleibt der Vorteil immer noch auf Ihrer Seite. – Darauf versetzte der Fremde stolz und drohend, wenn Sie mir versagen was Sie mir schuldig sind, so will ich dem ungezogenen Ding mit der Peitsche schon Sitten lehren wo ich sie finde. – Mein Herr, rief Wilhelm aus, indem er aufsprang, und ihm die Augen für Zorne funkelten, und ich schwöre, daß ich dem Hals und Beine brechen will, der dem Kinde ein Haar krümmt. – Er wollte noch mehr sagen, aber der Zorn verhinderte ihn, und er hätte um ihn auszulassen, wahrscheinlich den Fremden zur Türe hinausgeschmissen, welches die erste Gewalttätigkeit gewesen wäre, welcher er sich in seinem Leben schuldig gemacht, wenn ihn nicht Madam Melina heimlich bei dem Rockzipfel gefaßt und ihn gegen sich gezogen hätte.

    Der Fremde stutzte über diese Begegnung und da es die übrige Gesellschaft merkte, wurde auch ihr Mut lebendig, und sie fielen alle, besonders die Frau Prinzipalin mit unfreundlichen Worten über ihn her, daß er vor das Rätlichste hielte, sich zurücke zu ziehen, und mit heimlichem Brummen und Drohen die Gesellschaft zu verlassen. Man hielte sich über ihn, da er weg war, auf, besonders wurde über seinen linken feuerroten Backen gescherzt, Mignon gelobt, Wilhelm ließ noch ein paar Flaschen Wein bringen, man ward munter, lustig, und vertraut.
Des Abends saß Wilhelm in seiner Stube und schrieb, es klopfte an seiner Türe und Mignon trat herein mit einem Kästchen unter dem Arme. Was bringst du mir, rief Wilhelm ihr entgegen? – Mignon hatte die rechte Hand auf das Herz gelegt und machte, indem er den rechten Fuß hinter den linken brachte und beinah mit dem Knie die Erde berührte, eine Art von spanischem Compliment mit der größten Ernsthaftigkeit. Eine gleiche Verbeugung folgte mitten in der Stube und endlich als er gegen Wilhelmen herankam, kniete er ganz auf das rechte Knie nieder, stellte die Schachtel auf den Boden, faßte Wilhelms Füße und küßte sie mit großem Eifer, doch ohne eine anscheinende Bewegung des Herzens, ohne einen Ausdruck von Rührung oder Zärtlichkeit. Wilhelm der nicht wußte, was er daraus machen sollte, wollte sie aufheben, allein Mignon widerstand und sagte in einem sehr feierlichen Tone: Herr ich bin dein Sklave, kaufe mich von meiner Frau, daß ich dir alleine zuhöre. Sie nahm hierauf das Kästchen von dem Boden und erklärte ihm so gut sie konnte, daß dieses ihr Erspartes sei um sich los zu kaufen, sie bat ihn, es anzunehmen, und weil er reich sei, das was an hundert Dukaten fehlte, zuzulegen, sie wollte es ihm reichlich wieder einbringen und ihn bis an seinen Tod nicht verlassen. Sie brachte das alles mit großer Feierlichkeit, Ernst und Ehrfurcht vor, so daß Wilhelm bis in das Innerste seiner Seele bewegt ward und ihr nicht antworten konnte. Sie kramte darauf ihre Barschaft aus, deren Anblick Wilhelm ein freundliches Lächeln abzwang. Alle Sorten waren abgesondert und in Röllchen und Papierchen verteilt. Sie hatte sich für Silber und Kupfer besondere Kerbhölzchen gemacht und auf die verschiedenen Seiten die verschiedenen Sorten mit abwechselnden Zeichen eingeschnitten. Unbekannte und einzelne Münzen hatte sie am untersten Ende der Stäbchen wieder besonders angemerkt, und legte nach diesem wunderbaren Sortenzettel ihrem Herrn und Beschützer ihre Schätze vor. Wilhelm merkte wohl, daß der Vorfall von diesem Mittag einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hatte. Er suchte sie zu beruhigen indem er versprach ihr Geld aufzuheben und für sie zu sorgen, und bemühte sich vergebens ihr begreiflich zu machen, daß er sie nicht bei sich behalten und mitnehmen könne. Sie verließ ihn, indem sie rückwärts zur Türe ging mit eben den Verbeugungen mit denen sie gekommen war und grüßte von der Zeit an, wo sie ihm begegnete oder zu ihm trat, ihn jederzeit auf diese Weise, indem sie sich in einiger Entfernung hielte.


                                                9.Kapitel

    Nach und nach hatte Madam de Retti ihrem theatralischen Gast und Freunde alle Stücke gespielt, worauf sie sich etwas zu Gute tat, und hatte an manchen Stellen den jungen Kenner überrascht und in Erstaunen gebracht. Die übrigen von der Truppe taten auch ihr Möglichstes, besonders da der Beifall des Publikums immer zunahm und eine bessere Zirkulation des Geldes den Kreislauf ihres stockenden Humors völlig wieder herstellte.

    Nun fing endlich Wilhelm an ernstlich an seine Abreise zu gedenken, welche ihm ein guter warnender Geist manchmal in Erinnerung gebracht hatte.

    Die meisten übersetzten Trauerspiele welche Madam de Retti aufführen ließ waren wie jedermann weiß in schlechte Alexandriner geschmiedet, sie beklagte sich öfters darüber und Wilhelm übersetzte ihr zu Liebe einige starke Stellen in gute Verse, die ihr besonders wohl gefielen, daß sie solche oft mit großem Vergnügen rezitierte. An ruhigen Abenden hatte er manchmal etwas von seinen Arbeiten vorgelesen, die großen Beifall erhielten. Er führte sie sorgfältiger als jene Briefschaften im Grunde seines Koffers mit sich; nur das Trauerspiel Belsazar hatte er vorzutragen noch keine Stimmung gefunden. Er hatte es immer aufgeschoben und nunmehro wollte er es ihnen zum Abschiedschmause geben. Er nahm es hervor sah es an, korrigierte noch ein und den andern schwerfälligen Vers und ob er es gleich im Ganzen nicht billigte, so gefiel es ihm doch meistenteils, da er es wieder durchlas.

    Als er damit beschäftigt war, trat Mignon herein. Das Kind bediente ihn als seinen Herrn nunmehr regelmäßig, ob es gleich die andern nicht vernachlässigte. Es trat zu ihm und sagte: deine Weste ist blau, du liebst das Blau, ich will deine Farbe tragen – Gerne, versetzte Wilhelm, ich werde dich darum nur lieber sehen, und schenkte ihm ein blau und weißes seidenes Halstuch. – Du gutes Kind, dachte er bei sich selbst, was wird aus dir werden, wie kann ich für dich sorgen, als daß ich dich deiner Frau auf das dringendste empfehle. Wärst du ein Knabe, so solltest du gewiß mit mir reisen und ich wollte dich pflegen und dich erziehen, so gut ich könnte. Er ging in der Stube auf und ab, dachte dem Schicksale des Kindes nach und fühlte in Einem Augenblicke, daß er es verlassen müsse, und daß er es nicht verlassen könne.
    Er nahm sein Manuskript und ging zu Madam de Retti hinüber, wohin er eine Schale Punsch bestellt hatte, und wo er die Auswahl der Akteurs zusammen fand. Ich weiß nicht, sagte er, ob Sie gestimmt sind, ein Stück anzuhören, das vielleicht hie und da zu geistlich ist? –

    Sie versicherten alle, daß sie sehr aufmerksam sein wurden, ob es gleich nicht durchaus wahr sein mogte, indem einige lieber in der Karte gespielt, andere lieber geschwätzt hätten. Er fing an zu lesen und es wird, um der Folge willen, nötig sein, daß wir etwas von dem Inhalte erwähnen.

    Der König, sein Charakter, Leben und Wesen ist uns schon im vorigen Buche bekannt geworden. An seinem Hofe hielte sich eine Prinzessin auf mit Namen Kandate, deren Vater von Nebukadnezarn seines Reiches entsetzt worden war. Sie hegte einen heimlichen unversöhnlichen Haß gegen des Überwinders Sohn und sann auf Gelegenheit sich und den Geist ihres Vaters zu rächen, ja, wenn es möglich wäre ihren Zustand mit dem Throne zu vertauschen.

    Eron ihr Freund, ein Herr vom alten Hofe, dem es unerträglich fällt, vom jungen Könige vernachlässiget zu werden, der, um zu seinem vorigen Einflusse zu gelangen, alles auf das Spiel setzt, hat mit der Prinzessin eine Verschwörung angezettelt, sie haben sich mit dem medischen Könige Darius in eine Unterhandlung eingelassen, und dieser versprochen, ihr Rückhalt, wenn es fehl schlüge, zu sein. Darius selbst hat auf Babilon einen Anschlag; er kommt in fremder Gestalt an Hof und erscheint vor Belsazarn als ein medischer Feldherr, bei den Verschwornen zeigt er sich an als des Geheimnisses kundig, doch auch diese erkennen in ihm den König nicht. In der Nacht die vor Belsazars Geburtstag hergeht, der zur Ausführung des Vorhabens bestimmt ist, versammeln sich die Verschwornen nach und nach in einer Halle des Palastes und der Gegenstand der Handlung entwickelt sich allmählig. Der Anschlag Erons ist, die Prinzessin auf den Thron zu heben und sie mit dem Könige der Meder zu vermählen. Der verstellte Darius gibt als Abgesandter Hoffnung dazu jedoch kein festes Versprechen. Die Prinzessin empfindet, ohne seinen hohen Stand zu vermuten, eine Neigung zu dem verkappten Helden und wünscht mit ihm den Thron von Babel zu besitzen. Aber ganz andere Wünsche, ganz andere Sorgen nährt die Brust des Fürsten. So sehr er wünscht das Reich einem unwürdigen Könige zu entreißen, so widrig ist ihm die Verräterei die ihm darzu die Hände bietet. Und, o sonderbares Schicksal! es mischt sich auch hier die Liebe hinein. Die Gemahlin Belsazars Nitokris hat sein Herz gerührt, er brennt für sie mit der stärksten Leidenschaft, und fürchtet daß sie dem Mörder ihres Gemahles ihr Herz und ihre Hand nie gönnen werde. Er sucht die Verschwornen durch allerlei Vorstellungen zu bereden, ihr Unternehmen noch einige Zeit aufzuschieben, und sie gehen, zu großem Verdrusse des Erons, unschlüssig auseinander.

    Wilhelm, der das Stück fast auswendig wußte, las es sehr gut und mit viel Nüancen des Ausdruckes. Ein jeder Zuhörer suchte sich schon in Gedanken eine Person aus, die er vorzustellen gedachte, ein jeder pries den jungen Schriftsteller und trank seine Gesundheit in einem Glase Puntsch. Die Prinzipalin war von der Rolle der Prinzeß, als wenn sie ihr zur Ehre geschrieben sei, ganz entzückt, bat sich einen Augenblick das Manuskript aus, und las sogleich einige stolze, unruhige, herrische Stellen.

    Wilhelm der ein so großes Vergnügen empfand, als etwa ein Schiffbaumeister fühlen mag, wenn er sein erstes großes Fahrzeug von dem Stapel in das Wasser läßt, und es zum erstenmal vor seinen Augen schwimmen sieht, erhöhte seine Geister durch den feurigen Trank, fing den zweiten Akt an, dessen ersten Monolog wir in dem vorigen Buche gesehen haben.

    Der junge König des festen Entschlusses, seinen Geburtstag mit der Verehrung der Götter und der Betrachtung über sich selbst anzufangen, will nach Danielen schicken, um sich mit ihm zu unterhalten. Ein Hofmann der dazwischen kommt, zerstreut ihn und er übergibt sich dem Strome der für ihn zubereiteten Feste. Kaum daß er die Glückwünsche seiner Gemahlin anhören mag, deren Gegenwart ihm lästig ist, weil er wohl fühlt, er begegne ihr, der zartesten liebenswürdigsten Fürstin, nicht wie er sollte. Der Monolog trägt ihre stillen Klagen vor, in denen sie Darius unterbricht. – Diese letzte Szene wurde nicht mit dem Beifalle aufgenommen, den sie verdiente denn sie war für diese Zuhörer zu fein angelegt. Der junge Held zeigte seine Leidenschaft, indem er sie zu verbergen sucht, und die Empfindungen der Königin für ihn bleiben verborgen, ob sie gleich mit offenem guten Herzen spricht. Auch nach vollendetem zweiten Akte wiederholte man allgemeine Lobeserhebungen auf die sich ein älterer und mit dem Publiko näher bekannter Dichter weniger als unser Freund zu Gute getan hätte.

    Die erste Schale Puntsch war leer, man bestellte eine zweite und der Wirt, der schon darauf vorbereitet war, brachte sie sogleich. Mit noch mehr Begeisterung fing man an den dritten Akt zu lesen, und zu hören. Die Königin vertraut in einem Gespräche mit Danielen dem weisen Manne ihr ganzes feines Herze, die stille Duldsamkeit ihres Schicksales. Die innere Sicherheit ihres guten Wesens machen ihre Gestalt höchst liebenswürdig. Man sieht den Darius neben ihrem Gemahle, die Erscheinung des jungen Helden macht ihr einen glücklichen Eindruck, und die Empfindung seiner Würde leuchtet wie ein sanfter Schein über der trüben Dämmerung ihres Zustandes. Sie fühlt nichts Arges in dieser angenehmen Empfindung, und Daniel ist weise genug sie nicht zu stören. Eine Hofdame der Königin tritt hinzu und erzählt den Gang des Festes bis zu dem Augenblicke. Der König tritt herein, umgeben von den Großen seines Reiches, die ihm ihre Glückwünsche bringen, die Königin und Daniel fügen die ihrigen hinzu. Man erhebt sich zu dem Gastmale und Nitokris entschuldigt sich, nicht dabei zu sein. Es wird ihr leicht zugestanden, und so schließt sich der dritte Akt.

    Die Betrachtung, ob man hätte einen der vier großen Propheten auf das Theater bringen sollen, wurde reiflich durchgedacht, und diese kritischen Überlegungen verminderten ein wenig den guten Eindruck dieses Aufzuges.
    Zu Anfange des vierten erschien Eron mit einem Verschwornen höchst verdrießlich, daß eine so kostbare Gelegenheit ihr Vorhaben auszuführen, ihnen entschlüpfen soll. Er fängt an dem medischen Abgesandten zu mißtrauen und mögte wohl gar vermuten, daß dieser andere geheime Absichten habe, vielleicht seinen König ohne ihre Beihülfe auf den Thron zu setzen, und die Prinzessin ganz und gar auszuschließen. Er entdeckt ihr, die vor Verdruß über das unsinnige Schwelgen von der Tafel aufgestanden und herbeikömmt, seine Vermutung. Sie beschließen ihren Anschlag hinter dem medischen Fürsten auszuführen, ein wachsames Auge auf ihn zu haben, und ihn allenfalls, bis die Tat vorüber, selbst gefangen zu nehmen. Darius tritt eben zu ihnen mit einer lebhaften Beschreibung des wüsten Unsinnes der Tafel, wovon er unvermerkt sich entfernt hat. Er erzählt, daß eben die güldnen und silbernen Geschirre, die dem Gotte der Juden geweiht seien, herbeigeholt werden und man dem König göttliche Ehre erzeige. Eron verläßt sie, mit einem Winke an die Prinzessin des Fremden Gesinnungen zu erforschen. Ihre Unterhaltung läuft sehr kalt ab, Eron kommt zurück, erzählt die schröckliche Geschichte des erschienenen Wunders und dringt auf die Vollbringung der Tat da die Götter selbst ein Zeichen geben. Darius sucht vergebene Ausflüchte.
    Zu Anfange des fünften Aktes ers
cheint der niedergeschlagene König, den die Deutung der geheimnisvollen Worte schröckt, sein berauschter Geist sieht überall Schröcknisse und nur seine Gemahlin steht ihm in diesem traurigen Zustande bei. Nach einer rührenden Szene verläßt er sie und wird in dem Augenblicke von den Verschwornen ermordet.

    Die Prinzessin tritt auf, maßt sich des Reiches an, läßt die Königin bewachen. Sie befiehlt den bisher gefangen gehaltenen Fremden wieder frei zu geben; Darius, der seine Wache überwältigt hat, kommet selbst, an der Spitze medischer Soldaten, die durch einen geheimen Weg in die Stadt gedrungen, herein, entdeckt sich, zeigt sich als Herrn, die Verschwornen fallen ihm zu, er überläßt der Prinzessin einen königlichen Anteil von Gütern und Reichtümern, und tröstet die betrübte Königin auf eine so gute Art, daß den Zuschauern Hoffnung genug zu seinem künftigen Glücke übrig bleibt, obgleich der Vorhang fällt.

    Nun ging es an ein Schwätzen, an ein Schreien, ein jeder redete nur von sich selbst, und keiner hörte sich selbst vor dem andren. Das Stück müsse gespielt werden, waren sie alle laut einig.

    Wilhelm, der sie alle entzündet sah, war höchst ergötzt, so viele Menschen durch das Feuer seiner Dichtkunst angeflammt zu haben. Er glaubte was in ihm loderte auf ihnen verbreitet zu sehen, er fühlte sie wie sich und mit sich über das Gemeine erhöht. Er sprach Worte voll Geistes, voll Adel und Liebe.

    Der sorgfältige Wirt hatte indes ihre Schale nie leer werden lassen, und es schmeckte den Gästen immer besser. Sie jauchzten ihren Beifall laut, und ihre Freude ward immer ungezogener. Sie tranken Wilhelms Gesundheit hoch und schrien daß es ihm zum Abscheu klang und seine durch manches Glas Puntsch und die Rezitation des Stückes erhöheten Geister gewaltsam und unbehaglich niedergedrückt wurden. Der Lärm wurde immer ärger, sie wiederholten die Gesundheit des Dichters und der Kunst und schwuren daß nach solch einem Feste niemand wert sei, aus diesen Gläsern und Gefäßen zu trinken, sie schmissen mit Gewalt die Stengelkelche an die Decke, die Prinzipalin wehrte vergebens. Sie zerschlugen den Puntschnapf und die Neige floß herunter. Die Gläser die nicht entzwei gehen wollten, wurden gewaltsam gegen die Wände geschmissen, und fuhren zurückprallend mit den zerschmetternden Fensterscheiben klingend auf die Straße. Ein und der andere lag überfüllt in der Ecke, andere taumelten, alle rasten, man sang, man heulte, und Wilhelm, nachdem er den Wirt herbei gerufen, schlich sich, mit einer verworrenen höchst unangenehmen Empfindung, in sein Zimmer.


                                                10.Kapitel

    Den Sonntag Morgen der auf diese wüste Nacht folgte, hatte Wilhelm größtenteils verschlafen, und er fand sich bei dem Erwachen verstimmt. Sein Vorsatz Abends wenn die Vorlesung vorbei wäre, noch einzupacken, endlich an Wernern zu schreiben, Postpferde zu bestellen und heute frühe abzufahren war unerfüllt geblieben. Er zog sich an und dachte nach was er tun sollte. Mignon kam herein, brachte wie gewöhnlich Wasser und fragte, was er befehle. Der Anblick des Kindes ermunterte ihn, denn es hatte sein weiß und blau seidenes Halstuch umgebunden, hatte sich bei den Komödiantinnen verschiedene Läppchen blauen Taft zusammengebettelt, und sie als Aufschläge und Kragen an sein Westchen mit Geschicklichkeit angeheftet, daß es ganz artig ließ. Sie brachte ein Compliment von der Prinzipalin, die sich das gestrige Stück nur auf diesen Morgen ausbat. Er schickte es mit der Versicherung, daß er bald nachfolgen würde.

    Als er hinüber kam, fand er Madam Melina und de Retti beide beschäftigt, sich das Stück, besonders die Szenen der Prinzessin und Königin vorzulesen. Wir müssen es spielen, rief ihm die Prinzipalin entgegen, Sie müssen es uns lassen. Madam Melina schickte ihren besten Blick nach ihm und bat auf das freundlichste. Es war das erstemal, daß die beiden Frauen ganz einig waren. Die Prinzipalin fühlte sich schon ganz m der Rolle der Prinzessin, Madam Melina wünschte sehnlich die junge Königin zu spielen. Man schlug einen jungen hübschen Menschen, der sich zu bilden anfing, zum Belsazar vor. Ein gewandter alter Akteur sollte den Eron machen, Daniel ward Herrn Melina zu Teil, zur Hofdame fand sich auch eine Aktrice, und die übrigen Rollen waren unbedeutend; außer der Rolle des Darius, wozu Madam de Retti ganz zuletzt und gleichsam, mit Scham, ihren Liebling, Herrn Bendel in Vorschlag brachte.

    Dieser Mensch, den wir, wenn wir es nicht für unanständig und ein Wortspiel dem guten Geschmacke ungenießbar hielten, kurz und gut Herr Bengel nennen, und seinen Charakter und Wesen dadurch mit Einem Worte bezeichnen würden, war eine ungeschickte breite Figur, ohne den mindesten Anstand, ohne Gefühl. Er hatte nicht nur keine Eigenschaften des Akteurs, sondern er hatte auch alle Fehler die einen Schauspieler verwerflich machen. Nur eins zu bedenken, so n***lte er mit der Sprache, wenn wir mit diesem Ausdrucke, einen näselnden und durch eine unbehülfliche Zunge schlecht artikulierten Ton bezeichnen dürfen. Kleine Augen, dicke Lippen, kurze Arme, eine breite Brust und Rücken; genug er hatte vor den Augen seiner Frauen Gnade gefunden. Wir haben uns bisher gehütet dieser leidigen Figur, als nur im Vorbeigehen zu erwähnen, und tun es auch hier wider Willen, besonders da er zu großem Verdrusse unsers Helden zum Vorschein kommt.

    Der betroffene Schriftsteller wand verschiedenes gegen diese Person ein, jedoch mit Mäßigung, weil er das Verhältnis kannte, allein er wurde widerlegt, und leider widerlegte ihn die Unmöglichkeit, denn es war niemand bei der Truppe, der diese Rolle besser als er ausgeführt hätte. Man meinte, daß er doch den Grafen Eßex mit Beifall gespielt; nur war leider dieser Graf Eßex, worin ihn Wilhelm wohl gesehen hatte, ein schwerer Stein auf des jungen Autors Herz.

    Man redete so lang und so viel, daß endlich Wilhelm, der alte Hoffer, doch wieder möglich dachte, daß der Schauspieler durch Fleiß und Mühe bei dieser Rolle sich wieder verbessern könnte, und idealisierte ihn schon in seinem Geiste. Endlich gab er nach und es war beschlossen, so bald als möglich an das Werk zu gehen.

    Man hatte bei dieser Gelegenheit die ganze Truppe durchgegangen, und auch von Mignon und von der Ungeschicklichkeit des Kindes irgend etwas zu repräsentieren gesprochen. Wilhelm hatte sie in einigen Stücken gesehen, wo sie kleine Rollen so trocken, so steif und wenn man sagen soll eigentlich gar nicht spielte. Sie sagte ihre Lektion her und machte, daß sie fortkam. Er nahm sie zu sich und ließ sie manchmal rezitieren, aber auch da war er auf keine Weise mit ihr zufrieden. Wenn er sie bat sich anzugreifen, so war ihr Ausdruck auf gemeinen und bedeutenden Stellen gleich angespannt, sie sprach alles mit einer phantastischen Erhebung, und wenn er das Natürliche von ihr verlangte, wenn er sie bat ihm nur nachzusprechen, begriff sie niemals was und wie er es wollte.

    Dagegen hörte er sie einstmals auf einer Zither klimpern, die mit unter dem Theater-Hausrat war. Er sorgte davor, daß sie ordentlich bezogen wurde, und Mignon fing an in abgebrochenen Zeiten darauf allerlei zu spielen und zu phantasieren, immer wie gewöhnlich in wunderbaren Stellungen. Bald saß sie auf der obersten Sprosse einer Leiter, mit übereinandergeschlagenen Füßen, wie die Türken auf ihren Teppichen, bald spazierte sie auf den Dachrinnen der Hofgebäude, und der klagende Ton ihrer Saiten, zu dem sich auch manchmal eine angenehme, obgleich etwas rauhe Stimme gesellte, machte alle Menschen aufmerksam, staunen und stutzen. Einige verglichen sie einem Affen, andere anderen fremden Tieren und darinne kamen sie überein, daß etwas sonderbares, fremdes und abenteuerliches in dem Kinde stecke. Man konnte nicht verstehen was sie sang, es waren immer dieselben oder doch sehr ähnliche Melodien, die sie nach ihren Empfindungen, Gedanken, Situationen und Grillen verschiedentlich zu modifizieren schien. Nachts setzte sie sich auf Wilhelms Schwelle, oder auf den Ast eines Baumes der unter seinem Fenster stand, und sang auf das anmutigste. Wenn er sich hinter den Scheiben blicken ließ, oder sich in der Stube bewegte, war sie weg. – Sie hatte sich ihm so notwendig gemacht, daß er Morgens nicht ruhen konnte, bis er sie sah, und Nachts spät, rief er meistens noch nach einem Glas Wasser, um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Wenn er seiner Neigung gefolgt hätte, würde er sie als seine Tochter behandelt und sich sie ganz und gar zugeeignet haben.


                                                11.Kapitel

    Die Rollen wurden ausgeschrieben und gelernt. Ein jeder nahm mehr oder weniger Wilhelms guten Rat an, las mit ihm in seiner Gegenwart die Szenen, selbst die Direktrice hörte auf seine Erinnerungen. Man befliß sich einer wahren, gefühlten, starken Deklamation. In kurzer Zeit ward durch diese Einigkeit eine solche Harmonie in das Stück gebracht, daß auch selbst die Proben angenehm und gut zu hören waren. Madam Melina gab sich die größte Mühe, und Wilhelm versäumte nicht, sie in dem Eifer zu unterstützen. Sie konnte ihre Rolle in wenig Tagen auswendig, Wilhelm mußte sie ihr stellenweise vorsagen, sie szenenweise mit ihr spielen und sie kam dem rechten Ausdrucke ziemlich nahe. Nur freilich war die stille Reinheit, die sanfte Höhe, die innerliche Zärtlichkeit der Königin nicht in ihrem Charakter, es war ein gewisser Ton, eine gewisse gesetzte Rührung, die sie nicht ausdrücken konnte, doch blieb es schon immer sehr viel und Wilhelm ward täglich zufriedner.

    Mit dieser Übereinstimmung der Akteurs unter einander und mit dem Stücke, machte die Roheit, die Unart und Albernheit des Mosie Bendels den allerschlimmsten Kontrast. Er war von Natur einbildisch und hatte eine große Meinung von seinem Spiele; diesmal aber war er doppelt und dreifach ungezogen, weil er auf Wilhelmen für den die Direktrice so viele Achtung bezeigte, eine grimmige und unbändige Eifersucht empfand, die sich manchmal auf eine ungezogene Art und besonders bei dem Lernen und Probieren des Stückes zeigte. Da der leidige Mensch alle Tage trank, und kaum des Morgens nüchtern war, so wurde dadurch seine schlechte und wüste Aufführung nur immer unleidlicher. In seinem Verdrusse schüttete er noch mehr Wein in sich und wurde bei seiner übervollblütigen Konstitution etlichemal auf dem Theater von einer Art von Schwindel überfallen, daß man ihn nach Hause bringen und ihm zur Ader lassen mußte. So störete er den Frieden die Ordnung und die Annehmlichkeit der studierenden und probierenden Gesellschaft, die sich lange nicht so angenehm und einig gefühlt hatte, und die bei der Aussicht einer reichlichen Einnahme, die ihr dieses Stück verschaffen sollte, doppelten und dreifachen Eifer zeigte.

    Wilhelm machte indessen eine neue Bekanntschaft. In dem Schauspiele hatte er einigemal neben einem Offiziere gesessen und gefunden, daß er mit gutem Geschmacke von den Stücken und den Akteurs urteilte. Er war bisher aus langer Weile manchmal auf die Promenade gegangen, wo dieser Mann gewöhnlich zu ihm trat und sich mit ihm von literarischen Angelegenheiten unterhielte. Mit größter Verwunderung und Anteil fragte er endlich Wilhelmen, ob es wahr sei daß bald ein Stück von ihm selbst würde aufgeführt werden. Wilhelm gestund es und jener bezeugte eine freundliche Teilnehmung. Der Offizier war eine von den guten Seelen die an dem was andern widerfährt und was andere leisten, einen herzlichen Anteil zu nehmen, von der Natur gestimmt sind. Sein Stand, der ihn zu einem harten trotzigen Geschäfte verdammte, hatte ihn, indem er ihn mit einer rauhen Schale umzog, in sich noch weicher gemacht. In einem strengen Dienste, wo alles seit Jahren in der bestimmtesten Ordnung ging, wo alles abgemessen, die eherne Notwendigkeit allein die Göttin war, der man opferte, wo die Gerechtigkeit zur Härte und Grausamkeit ward und der Begriff von Mensch und Menschheit gänzlich verschwand, war seine gute Seele, die in einem freien und willkürlichen Leben ihre Schönheit würde gezeigt und ihre Existenz würde gefunden haben, gänzlich verdruckt, seine Gefühle abgestumpft und fast zu Grunde gerichtet worden. Das unschuldige Vergnügen das ihm übrig blieb, war die aufkeimende deutsche Literatur. Er war darinne bis auf jede Kleinigkeit bekannt, er wußte was wir hatten und nicht hatten, er hoffte, er wünschte und ob er gleich einige fremde Sprachen besaß, und ihre besten Schriftsteller las, so gab er doch in seinem Herzen, dem engen Haushalte seines Vaterlandes vor jenen Reichtümern den Vorzug, indem er sich ihnen näher fühlte. Er war auf so eine gute Weise parteiisch, und versprach sich alles was er nicht vorzeigen konnte, von dem nächsten Geschlechte. Man konnte ihn einen wahren Patrioten nennen, einen von denen, die in der Stille zur Aufnahme und Aufmunterung der Wissenschaften bei uns, ohne es zu wissen und zu wollen, so vieles beigetragen haben.

    Sie gingen manchmal zusammen auf das Billiard, manchmal spazieren, und wurden einander wechselsweise gar vieles. Wilhelm, der außer dem dramatischen Fache nicht sehr bewandert war, wurde durch ihn in die weiteren Kreise der schönen Literatur hinausgeführt, und es verging kein Tag ohne Nutzen und ohne die Freude einer neuen geistigen Bekanntschaft.

    Als Herr von C. das Trauerspiel seines jungen Freundes durchlas, war er entzückt und erstaunt. Er gab ihm vor allen die in deutschen Versen abgefaßt und bekannt waren, den Vorzug, und bat ihn, ja auf dem Wege fortzufahren, und wünschte ihm nur mehr Welt, und Menschenkenntnis um seinen Stücken den echten Wert und das rechte Gepräge geben zu können. Dieses Stück, sagte er, so wohl es mir gefällt, ist nur von innen herausgeschrieben, es ist ein einziger Mensch, der fühlt und handelt. Man sieht, daß der Autor sein eignes Herz kennt, aber er kennt die Menschen nicht. Wilhelm gab dies gern und noch mehr zu, schüttete das Kind mit dem Bade aus, ließ sich aber doch ganz gerne widerlegen, als der Offizier den eigentlichen Wert des Stückes mit Kenntnis und Verstand bestimmte.


                                                12.Kapitel

    Madam Melina ließ unsern jungen Dichter nun gar nicht los. Sie war klug genug zu sehen, wie vielerlei Vorteile sie von ihm ziehen könne. Im Trauerspiele hatte man sie bisher mit Gleichgültigkeit aufgenommen, sie hoffte diesmal glücklicher zu sein. Er probierte gewöhnlich mit ihr alle Tage, und sie schien von der Art wie er den Darius machte, ganz entzückt.

    Mignon setzte sich meistenteils in eine Ecke wenn sie rezitierten und war überhaupt immer gegenwärtig, wenn Wilhelm las oder deklamierte, verließ ihn nicht mit den Augen und schien sich selbst zu vergessen. Sie verlangte manchmal von Wilhelm eine Lektion zum Auswendiglernen, die er ihr denn auch, meistenteils aus seinen eigenen Stücken gab. Sie lernte auch geschwind, nur wollte die Rezitation nicht geschickter werden.

    Eines Tages da Wilhelm und Madam Melina geendigt hatten und über verschiedene Verse sprachen, fragte das Kind ob es seine Rolle aufsagen dürfe. Man erlaubte es ihm und es fing folgende Stelle aus der Königlichen Einsiedlerin, die er ihr gestern abgeschrieben hatte, sehr pathetisch vorzutragen an. Er ging in der Stube hin und her, ohne sonderlich auf sie Acht zu haben, indem er an etwas anders dachte.

        Heiß' mich nicht reden, heiß' mich schweigen,
        Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht.
        Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen
        Allein das Schicksal will es nicht.
        Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
        Die düstre Nacht und sie muß sich erhellen,
        Der harte Fels schließt seinen Busen auf
        Mißgönnt der Erde nicht die tief verborgne Quellen
        Ein jeder fühlt im Arm des Freundes Ruh
        Dort kann die Flut der Klagen sich ergießen
        Allein mir drückt ein Schwur die Lippen zu
        Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

    Wilhelm merkte nicht auf, wie sie die ersten Verse vortrug, doch da es an die letzten kam, sprach sie solche mit einer Emphase von Innigkeit und Wahrheit aus, daß er aus seinem Traume geweckt wurde, und es ihm klang als wenn ein anderer Mensch redete. Er war eben im Auf- und Abgehen weggewendet, er fuhr schnell herum, sah das Kind an, das, nachdem es geendiget hatte, sich wie gewöhnlich beugte.

    Wilhelms Plan mit dem er sich beruhigte war nunmehr gemacht. Er hatte sich entschlossen die Aufführung seines Stückes abzuwarten, alsdann sogleich zu reisen, und sich bei Wernern über seinen bisherigen Aufenthalt zu entschuldigen.

    Man ging immer weiter und überlegte, was man, um dem Stücke sein Recht anzutun, für Kleidungen und Dekorationen nötig habe. Unser Offizier half zu Büchern, und Reisebeschreibungen, woraus man die orientalischen Trachten am besten wählen könnte. Von anständigen tragischen Dekorationen war auch wenig da, und obgleich das Theater nur einigemal verändert ward, so mußte doch auch dafür gesorgt werden, und, wie natürlich, fiel auch hier die Last auf den guten Dichter. Der mußte für Stoff und Zindel, Leinwand und Farbe, für Schneider und Maler stehen, und er begnügte sich mit dem Versprechen, das ihm auch bisher nicht viel gefruchtet hatte, man wollte ihn aus der zu hoffenden Einnahme sogleich entschädigen, indes sollten ihm die anzuschaffenden Bedürfnisse mit dem übrigen als Pfand verschrieben sein. Es ruckte alles näher und näher zusammen, auch sogar hatte man die gewöhnlichen Musikanten bei einem solchen Feste zu spielen für unwürdig gehalten und die Regiments-Hautboisten erhielten die Erlaubnis ihre Stelle gegen gute Bezahlung einzunehmen.

    Alle diese schöne Aussichten wurden durch die einige und leidige Gestalt des bengelhaften Darius bei jeder Probe gestört. Wilhelm tat alles Mögliche um den Vorhang des Selbstbetrugs, der ihm sonst selten versagte, vor die Augen zu ziehen, bald hoffte er, es würde der Mensch in einer schönen Kleidung sich besser ausnehmen, er hoffte die Stärke der Harmonie, worinne die andern spielten, würde ihn mit hinreißen, er tröstete sich sogar mit der Erwartung eines Wunders, das vielleicht am Abende der Aufführung die harte Schale dieser Natur sprengen und noch eine angenehme Gestalt zum Vorschein bringen könnte, er verließ sich zuletzt auf die Beleuchtung und auf die Schminke, er nahm alle natürliche und unnatürliche Möglichkeiten zum Trost und Hülfe; vergebens! sobald jener den Mund auftat, war alle Illusion zerstört, und wenn er eines Teils jenen Tag mit großer Sehnsucht erwartete, so war es ihm ein Schröcken, wenn er in Gedanken jene verstimmende Natur hereintreten sah.


                                                13.Kapitel

    Das Publikum fing nun an auf unsern Schriftsteller aufmerksam zu werden. Man zeigte sich ihn einander, daß er es sei, von dem ehestens ein Stück aufgeführet werden sollte, man beschäftigte sich mit ihm in allen Gesellschaften. Er machte die Bekanntschaft vieler Offiziere, Herr von C. brachte ihn in ein Haus, wo eine Dame mit ihren beiden Schwestern das Band eines angenehmen Zirkels war. Sie konnten ihren Gellert auswendig, brachten Rabeners Späße nicht ungeschickt an, sangen Zachariäs Lieder und spielten recht hübsch auf dem Klaviere. Wilhelm war überall gut aufgenommen, weil er sehr bescheiden, und doch, bei näherer Bekanntschaft, treuherzig und lebhaft war. Er befand sich auch recht wohl in dieser neuen Sphäre; nur daß es ihm dabei wie andern jungen Leuten erging. Aus Gutmütigkeit und Biegsamkeit überließ er sich dem herrschenden Tone einer jeden Gesellschaft, in der einen war er sanft, zurückhaltend und unbedeutend, in der andern schwärmte er, mit den Offizieren war er laut, und trank auch wohl gelegentlich über die Maßen; welche Abwechselung der Lebensart ihn mit sich selbst in einige Verwirrung setzte.

    Der Titul und Inhalt seines Stückes war nunmehr bekannt geworden, mehrere hatten daraus rezitieren hören, einige Liebhaber waren in die Probe geschlichen, man sprach, man urteilte schon von allen Seiten. Die Geistlichkeit wurde aufmerksam, da sie hörte, daß Daniel, der vierte unter den Großen, sollte von einem landstreichenden Komödianten vorgestellt werden. Sie brachten die Sache höheren Ortes an, und in Abwesenheit des Oberamtmanns erging ein Befehl an Madam de Retti, das Stück nicht aufzuführen. Welch ein unerwarteter Fall! welch ein Verdruß! welche Sorge! – Herr von C. erfuhr es bald, es ärgerte ihn, und jene Tätigkeit, die er stets für seine Freunde zeigte, war auch hier des Schriftstellers und der Schauspieler Hülfe. Er lief herum, er bewies, überredete. Zum Glücke war Racinens Athalie in der Residenz französisch gespielet worden, er zeigte, das dieses Stück noch viel unverfänglicher sei, indem, obgleich die Geschichte davon in der Bibel stehe, die Schauspieler doch lauter Heiden seien, bis auf den einzigen Daniel, welcher ganz vortreffliche moralische Sachen sage. – Seine Bemühungen und Gründe, mehr aber noch der Einfluß, den er auf einige verständige und seine Freunde auf unverständige Frauen hatten, brachten diese Sache bald wieder in das Gleis, und das Verbot wurde aufgehoben.

    Der Tag war nunmehr angesetzt, und den Abend vorher sollte die letzte Probe sein. Man wollte die Dekorationen und die Kleider auch einmal bei Lichte sehen. Wilhelm lief, und rannte den ganzen Tag. – Er hatte nicht allein das Theater auf das beste herausstaffieret, sondern er ließ auch m das Proszenium und die Logen selbst, die bisher mit armseligen Lappen behängt waren, mit Leinwand, wo es nötig war, beschlagen und mit architektonischen Zieraten bemalen. Er hatte, um die Beleuchtung zu verdoppeln, mehrere Lampen und Placker angeschafft, und es war ihm dieses Geschäft höchst angenehm und befriedigend, da er alle seine erworbene Kenntnisse, und die Ideen, mit denen er sich bisher getragen, überall zum größten Teile anwenden und in Ausübung bringen konnte. Er putzte die Bude so artig heraus, als wenn es eine Christbude gewesen wäre, und gefiel sich so wohl darinne, daß er nicht einmal Mittags nach Hause ging, sondern sich das Essen hinauf bringen ließ. Er agierte, rezitierte für sich, machte Plane zu neuen Stücken, und das Herz schlug ihm für Freude und Erwartung, wenn er sich statt der leeren Bänke und Wände, so viel über einander gebaute Köpfe vorstellen konnte.

    Abends kam Herr und Frau Melina zuerst und brachten die böse Nachricht, daß Mosie B. wieder einen neuen schweren Anfall seiner Krankheit gehabt hätte. Es habe ihn mit Frost und Hitze angegriffen, das Blut wäre ihm alles nach dem Kopfe gestiegen, und es sei manchmal als wenn er gar ersticken wolle. Man habe sogleich nach einem Arzte geschickt, der versicherte, es sei ein Übergang wie der vorige auch und habe gar nichts zu bedeuten. Es zeige sich die Wirkung einer Unmäßigkeit und wenn er sich die Nacht ruhig halte, und die verordnete Medizin brauche, so werde er morgen gewiß spielen können. – Sie sind wohl so gut, sagte Madam Melina, und nehmen heute Abend seine Rolle, Sie wissen das Stück ja so, daß Sie es aus dem Kopfe soufflieren könnten, und es ist uns allen ein großer Vorteil, daß Sie die Hauptprobe selbst dirigieren, damit uns die Prinzipalin nicht bald dieses bald jenes heißt, worüber sie am Ende selbst ungewiß ist.

    Die übrigen kamen nach und führten eine gleiche Sprache. Die Musik war auch bestellt. Man suchte schickliche, ernsthafte, prächtige Stücke zwischen die Akte, aus verschiedenen Symphonien heraus. Man fing an zu probieren und Wilhelm der, um die anderen ins Feuer zu setzen, selbst ins Feuer kam, übertraf sich in Sprache und Spiel. Alle taten das Ihrige, so daß ein jeder mit sich selbst und mit den andern am Ende herzlich zufrieden war.

    Ach wie anders wird es sein, sagte Madam Melina, wenn morgen unser schwerer Held auftritt, daß die Bretter knarren, und das Theater sich biegen möchte. Wollte doch der Himmel, mein Freund, Sie wären zu dieser Kunst bestimmt, und müßten das schöne Talent, das Ihnen die Natur zugegeben, nicht mutwillig verbergen und vergraben. – Sie sehen, sagte er, meine Beste, daß mir leider dahin der Weg verschlossen ist. – Es scheint nur so, sagte Madam Melina, ich war in dem nämlichen Falle, es ist nur eine papierne Türe, die man mit dem Ellenbogen einstoßen kann.

    Die Schneider die mit den Kleidern ankamen, unterbrachen sie, man ging bei Seite, man zog sich an, man fand sich schön, nur noch nicht reich genug, es wurde noch mehr Zindel aufzusetzen, noch mehr Flintern anzubringen, geboten. Endlich kehrte man nach Hause zurück, und die erste Frage daselbst war, wie sich der Kranke befinde? Man hörte, er schlafe, und es war das erstemal, daß sein Schlafen oder Wachen jemanden außer die Prinzipalin interessieret hatte.


                                                14.Kapitel

    Der andere Morgen erschien und weckte Wilhelmen bei Zeiten. Er hörte B. habe eine ruhige Nacht gehabt und schlafe noch. Er nahm daraus gute Hoffnung und eilte nach dem Schauplatze, wo noch verschiedene Handwerksleute beschäftiget waren. Gegen Mittag war alles fertig, die Verwandlungen, ob sie gleich zwischen die Akte fielen, sorgfältig probieret, und es begegneten ihm da er nach Hause ging schon verschiedene Postkutschen mit Fremden, die der Ruf herbeigezogen hatte. Er genoß zum erstenmale das Vergnügen, das Publikum durch sich in Bewegung zu sehen. Die feuchten Komödiantenzettel liefen von Haus zu Hause und der Name Belsazar schien ihm mit großen Buchstaben an allen Eckhäusern entgegen.

    Als er nach Hause kam, fand er verschiedene Bedienten und Leute die Geld in den Händen hielten. Es war das erstemal daß sich die Prinzipalin nicht zu helfen wußte, denn schon waren alle Logen genommen und alle Billete ausgeteilet. Man hatte schon angefangen, noch einige besonders nachzumachen, welches aber Wilhelm verhinderte, weil die Leute nicht alle Raum finden, und sich im Hause entweder erbärmlich drängen oder wohl gar wieder würden weggehen müssen.

    Bendel war indessen aufgestanden, streckte sich im Sessel und nahm ein tüchtiges Frühstück zu sich. Er war der einzige der seine Rolle noch nicht recht auswendig konnte, und was das Schlimmste war, er hatte gleich vom Anfange einige Verse falsch gelesen, und andern aus Unverstand die Worte zu versetzen sich angewöhnt, wodurch ein alberner Sinn in verschiedene wichtige Stellen kam. Durch vieles Einreden war er aufmerksam darauf, allein ehe man sich es versah, entfuhr dem ungeschickten Gehirne der gewohnte Irrtum. Er fing an zu stottern, und anstatt den Fehler zu verbessern, verwirrte sich seine ungelenke Zunge, in einem doppelten und dreifachen Quidproquo. – Er hatte seine Rolle neben sich liegen und indem er sie hersagte, schien er sie in diesem Augenblicke eben zur gelegenen Zeit vergessen zu haben. Wilhelm der in die Stube hereintrat, konnte es nicht ausstehen, er eilte unwillig fort und die Prinzipalin war in der größten Verlegenheit.

    Wie hundertmal ist es bemerkt worden, daß der schönste Wunsch des Menschen, wenn er sich ihm endlich in seinem ganzen Umfange erfüllt, doch meist durch eine irdische Zugabe verdorben und der angenehmste Genuß dadurch oft zur Marter wird. – Unser Freund sah nunmehr den Tag erscheinen, den er sich als Knabe so manchmal herbei gewünscht hatte. Wir sehen daß Kinder zuerst durch die äußere Form eines Metiers, das ihr Vater treibt, oder das sie sonst zu ergreifen gelockt werden, sich rühren lassen. Sie nehmen Stecken und machen sich Schnurrbarte um Soldaten, Bindfaden um Kutscher und papierne Umschläge um Pfarrer zu scheinen, so war es unserm jungen Dichter auch gegangen; als Knabe hatte er schon Komödienzettel geschrieben, worauf er eigene Stücke, die nicht gefertiget noch zu fertigen waren, mit prächtigen Titeln ankündigte. Wenn er nachher die Personen eines Stückes und die ersten Szenen davon schrieb, dachte er sich wie schön es sein müsse, dies dereinst in so zierlichem Formate, wie die erste Ausgabe von Leßings Schriften, gedruckt zu sehen. Wenn er im Parterre saß und die angefangene Symphonie die Gemüter der Zuschauer erhob, ach, dachte er, wenn du so glücklich sein solltest vor dem Vorhange zu sitzen, die Ouvertür zu hören, und dein eigen Stück zu erwarten! Der gute Knabe hoffte damals, es würde ihm alsdenn seine eigene Sachen so außerordentlich, und er sich selbst so ehrwürdig vorkommen, als ihm gegenwärtig die über ihn erhabene Schriftsteller und ihre Werke. – Und wem geht es nicht so der andere in Reichtum, Rang, Titel, Ämter und Ehren über sich glänzen sieht? –

    Der Tag war nunmehr da, und wie viel fehlte es an jenem Entzücken mit dem er als Kind dem häuslichen Puppenspiele zum erstenmale beigewohnt? Durch die Proben ermüdet, schien ihm das Stück beinahe selbst trivial zu sein. Scheu vor der Verantwortung gegen die Seinigen wegen seines langen Aufenthaltes, angefesselt durch das Geld, welches er leichtsinniger Weise verborgt, und selbst diese Tage her, in ein leichtes Brettergerüste verwendet hatte, war er von innen heraus nicht ganz heil; doch hätte seine Leidenschaft alles überwogen, wenn ihn nicht der verwünschte Darius ganz und gar aus allem Behagen geworfen hätte. Es war ihm wie einem Tänzer, der sich sonst ganz frisch befindet, nur daß ihm die große Zehe, wie er das Brettgerüste besteiget, erbärmlich zu schmerzen anfängt.

    Er eilte bald wieder auf das Theater, vergnügte sich an der Ruhe und Ordnung die oben herrschte, der Tapezierer war eben daselbst und schlug einen großen Fußteppich von grünen Friese auf die Szene. Eine Ausgabe, die auch Wilhelmen stark in den Beutel fiel, ob er gleich überzeugt war, seinem Trauerspiele dadurch die letzte Würde zu geben. Die Stunden liefen herum, und schon gegen viere suchten die müßigsten Zuschauer sich die besten Plätze, gegen fünfe war das Haus ziemlich voll, außer den genommenen Logen. Die Musik war angekommen, und gab mit unerträglichem Stimmen und Klimpern den Zuschauern die nächste Hoffnung daß sich der Schauplatz bald eröffnen werde. Im völligen Putze traten die Akteurs nach einander an, die vorderen Lampen wurden angezündet, und es fehlten nur noch die beiden Fürstinnen mit dem medischen Helden sonst war alles zum Anfange bereit. Ein jeder Schauspieler zeigte sich in seiner Kleidung unseren Freunde, der an ihnen noch einiges zurecht rückte, als einige Bedienten aus der Stadt, eilig auf das Theater kamen und fragten ob denn das Stück noch nicht gespielt werde? Es wollte verlauten als wenn ein Akteur krank geworden sei, und man das Trauerspiel nicht geben könne. – Wilhelm versicherte, es sei ein Irrtum, er wäre wieder besser und man würde um die bestimmte Stunde, die heranrücke, anfangen. Es war auch ein Bedienter von seinem militärischen Freunde darunter, den er mit eben diesen Worten abfertigte.

    Kaum war dieses geschehen als Madam de Retti ihm sagen ließ, er mögte doch eilig in das Wirtshaus kommen, und der Bote verbarg ihm nicht, daß Monsie B. einen neuen Anfall der Krankheit in diesem Augenblicke litte. Voller Schröcken lief Wilhelm hin, und fand beide Frauen im königlichen Habite um den halb angekleideten Menschen beschäftigt, der im Sessel lag sinnlos, dem ein Arzt zur Seite stund, und ein Chirurgus die Ader öffnete. Madam de Retti war außer sich, Madam Melina wollte rasend werden, der Arzt schalt auf den unmäßigen Menschen, der seine gewöhnliche Mahlzeit zu sich genommen, und sich seine Flasche Wein nicht versagt hätte, wodurch die ohnedem in dem Körper steckende Krankheit neuen Trieb erhalten. Er versicherte, sie mögten nur keine Umstände machen, sich auskleiden und ein anderes Stück spielen. Als das Blut lief, erholte sich der Kranke ein wenig, und der Arzt befahl dem dabeistehenden Theaterschneider, daß er ihn schnell sollte auskleiden, und ihn in das Bett bringen helfen.

    Wilhelm stand unbeweglich, es lag eine Last auf ihm wie auf einem, den der Alp drückt, er konnte kein Glied rühren, es war als wenn sein Blut stockte, und das Herz stille stünde. Er ging mit den beiden Frauen in ein anderes Zimmer. Was fangen wir an! rief er aus. – Die Kutschen, durch die letzte Nachricht, welche er den Bedienten gegeben, in Bewegung gebracht, fingen an zu rasseln. Es wurde ihm so bange, wie einem dem eine Last zum Berge hinunter zu rollen anfängt die er nicht aufhalten kann, wie einem der im Begriffe ist zu gleiten und hinterdrein zu rutschen. – Was fangen wir an! rief Madam de Retti und sah der bestürzten Melina in die Augen. – Ach, rief jene mit einem bewegten Tone, es ist nur Ein Mittel! Mein Herr! Mein Freund! – Ja unser Freund, rief die Prinzipalin, indem sie ihn wie jene bei der Hand nahm, Sie müssen uns retten! – Er stand zwischen beiden Weibern, deren ganze Seele durch das Schröcken, durch die Furcht, die Verlegenheit, die Sorge, die sie in dem Augenblicke ergriff, erhöht war, er verstand sie nicht – und gleich darauf verstand er sie – und auf einmal kamen alle seine Lebensgeister in Bewegung – Mit dem Gedanken, daß man es von ihm verlangen könnte, daß es möglich sei, wendete sich auf einmal die Last, die seinen Busen beschwerte, weg, die drückende Stille war aufgehoben; aber er fühlte sich einem Sturme von Zweifeln, Wünschen, Mut und Bangigkeit ausgesetzt, dem er fast unterlag. – Was sagen Sie? rief er aus, nein, es kann nicht sein. – Sehen Sie unsere Verlegenheit, rief Madam de Retti, fühlen Sie Ihre eigene. Wir sind verloren wenn wir das Publikum nicht befriedigen, unser Schicksal hängt von Ihrem Willen ab, und diese ganze Verwirrung wird durch ein Wort von Ihnen gehoben, auf das schönste gehoben, denn es kann diese Rolle niemand wie Sie selbst spielen. – Wie schön war unsere Probe gestern, rief Madam Melina, ach wenn ich mir die heutige Aufführung so denke, ich komme außer mir vor Entzücken und meine ganze Angst verwandelt sich in Wonne. – Eine löste die andere ab, jede sagte etwas dringenderes und schöneres, ihre bewegten Seelen rührten die seinige mehr als ihre Worte, ihre schöne Kleidungen und edeles Betragen machte das was sie sagten noch eindringender. – Sie können es nicht versagen, rief die Prinzessin aus, an dem heutigen Tage hängt unser ganzes Glück. Sie sind auch mir es schuldig denn hier ist das einzige Mittel, daß ich aufhöre Ihre Schuldnerin zu sein. Ich bin oft unglücklich gewesen, aber wenn wir in dem Moment das Publikum aufbringen und seine Erwartung täuschen, so werde ich elender sein als jemals. – Die Tränen liefen ihr von den Wangen, eine Träne glänzte in dem Auge der Madam Melina, seine Augen wurden naß, und er wußte nicht mehr wie er sie abweisen sollte. – Wollen Sie mich zu Ihren Füßen sehen, rief die stolze Prinzessin, indem sie sich vor ihm auf die Knie warf. – Können wir dringender bitten, rief die reizende Königin, und fiel auf der anderen Seite vor ihm nieder. – Er konnte es nicht aushalten, er zwang sie aufzustehen, er konnte nicht Ja sagen und hätte nicht die Kraft ein entscheidendes Nein herauszubringen – Madam de Retti stund auf und ging an das Fenster ihre Tränen zu trocknen. – Entschließen Sie sich, sagte Madam Melina heimlich, es weiß niemand Ihren rechten Namen als mein Mann und ich, Sie sind hier völlig unbekannt, Ihren Verwandten ist Ihr hiesiger Aufenthalt ein Geheimnis, ich schwöre Ihnen, es soll auf keine Weise jemals über unsere Lippen kommen. – Mögte doch, rief Madam de Retti, die sich wieder zu ihm kehrte, nur der tausendste Teil von dem, was Sie jemals für die Schauspielkunst empfunden, in diesem Augenblicke Ihre harte Brust erweichen.

    Es schlug sechse.

    Ihr Wunsch war schon, eh sie ihn tat, wirksam gewesen. Was sich beide Frauen in dem Drang ihrer Seelen möglich dachten, konnte er sich endlich auch möglich denken. Gerührt wie er war wenn er es recht fühlte in dem glücklichsten Momente! War nicht sein eigener Wunsch erfüllt? Ein guter Geist hatte den leidigen Sünder, der die ganze Übereinstimmung seiner schönen Dichtung zerstörte, gelähmt. Ihm selbst war es gegeben die Krone des Beifalles zu brechen, ihm war es aufgedrungen, das Schicksal seines eigenen Stückes und seiner Freunde zu entscheiden. Die Zusammenstimmung aller Umstände bis auf den heutigen Tag, schienen dieses Opfer zu verlangen, das dem größten Triumphe, den ein Mensch erringen könnte, ähnlich sah. Er ward nachdenkend, er schwankte, die Frauen redeten nicht mehr, sie faßten ihn bei der Hand, und sahen ihn beweglich an. – Wenn nur ein Freund gegenwärtig gewesen wäre, den er um Rat hätte fragen können.

    Es stürzte jemand mit Ungestüm die Treppe hinauf und rief, sie mögten nicht länger zaudern, sie mögten kommen, das ganze Haus sei angefüllt, das Publikum werde unruhig und poche schon eine Viertelstunde. – Ein einziges Ja, sagten die Frauen, würde diesem unübersehlichen Unheile ein Ende machen. – Es ist unmöglich, sagte Wilhelm, wie soll ich mich der Rolle in dieser Verlegenheit gewiß ganz erinnern, wo soll ich ein Kleid hernehmen, das in dem Augenblicke anständig wäre und zu den übrigen paßte, die alle neu sind?

    Da er Einwendungen machte war er verloren. Die erste hob Madam Melina gleich, und wegen der zweiten rief die Prinzipalin nach dem Theaterschneider. – Könnt Ihr das Kleid des Herrn B. geschwind diesem Herrn auf den Leib passen, sagte sie. – Es geht nicht an, rief Wilhelm, er ist viel größer und stärker als ich. – Das hat gar nichts zu sagen, versetzte der Schneider, einnähen kann man geschwinder als auslassen, besser zu groß als zu klein. In einer Viertelstunde bin ich fertig, so was kommt tausendmal vor. – Die Prinzipalin winkte ihm, er lief hinüber und holte die Kleider. Was machen Sie, sagte Wilhelm, ich kann mich nicht entschließen. – Es bleibt uns nichts anders übrig, versetzte sie. – Ein zweiter Bote stürzte herein, wo bleiben Sie, rief er, in voller Hast, die Zuschauer werden unbändig, das Parterre verlangt das Stück und pocht und tobt, die gedrückte Galerie kracht vor Unfug, ein Teil fordert sein Geld, die Logen drohen nach ihren Kutschen zu schicken, die Musik spielt indessen was sie kann, um den Sturm nur einigermaßen zu besänftigen. Die zwei Boten stunden neben einander und harrten auf Antwort, der Schneider kam mit den Kleidern auf dem Arme – Ich schicke hin, rief die Prinzipalin, damit das Publikum nur zur Geduld komme. – Sie ging mit den Boten zur Türe hinaus, Wilhelm sagte weder Ja noch Nein und ließ sich ankleiden. – Draußen befahl sie, der Alte, dem die Rolle des Erons zugeteilt war, sollte vor den Vorhang treten und mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit das Publikum anreden, die Ursache anzeigen, nur um eine Viertelstunde Aufschub bitten, und mit Demut und Bescheidenheit das Beste versprechen. – Die flinken Hände des Schneiders und einer Näherin, die man herbei gerufen hatte, bildeten schnell unseren Freund zum Helden um, noch ehe er sich besann. Madam Melina kämmte ihm selbst die Haare in fliegende Locken, die ein köstlich geputzter Helm mit großen Federn zu drücken bestimmt war. Der Harnisch und das Schürzchen, der Mantel und der Gürtel, glänzten wie wahrhaft und paßten wie angegossen. Zum Glücke fanden sich ein paar neue Schnürstiefel, die dem Helden genau anlagen. Er war fast in kürzerer Zeit gewaffnet, als die Helden Homers, die sich zur eiligen Schlacht rüsten.

    Er besah sich im Spiegel und der alte Geist des Schauspieles kam über ihn. Er rückte selbst die Stücke, die ihn zierten, zurechte, die Frauen putzten rechts und links, und ließen ihn nicht zu sich kommen. Er saß im Wagen und stand auf dem grünen Teppiche zum größten Erstaunen und zur großen Freude der übrigen Akteurs, ehe er sich besinnen konnte.

    Mit Schaudern sah er durch die Lücke des Vorhanges in die gedrängte Versammlung. Die Symphonie des Stückes ging an, und sein Geist, der aus einer Leidenschaft in die andere geworfen war, faßte sich zusammen, und rufte die ersten Verse seiner Rolle aus dem Gedächtnisse hervor. Er maß etlichemal mit schnellen Heldenschritten den grünen Teppich, beredete noch eins und das andere, ermahnte den Souffleur und die Handlanger, die bei den Verwandlungen angestellt waren, und in weniger als einer Minute schien er sich mit seinem Zustande so bekannt, als wenn er jahrelang dabei hergekommen sei.

    Wie einer der mühsam über den gefrornen hockrichten Boden eilt und unsicher auf seinen ledernen Sohlen das glatte Eis betritt, gar bald, wenn er die Schrittschuhe nur untergebunden hat, von ihnen hinweggeführet wird und mit leichtem Fluge das Ufer verläßt, seines vorigen Schrittes und Zustandes auf dem glatten Elemente vergißt, und vor den ungeschickten, herbeigelaufenen Neugierigen auf den Dämmen, in ehrenvoller Schönheit dahinschwebet; oder wie Merkur, sobald er die goldnen Flügel umgebunden, über Meer und Erde sich leicht nach dem Willen der Götter bewegt; so schritt auch unser Held in seinen Halbstiefeln, berauscht und sorgenlos, über das Theater hin, als das letzte Presto der Symphonie ihn nötigte, sich hinter die Coulissen zu verbergen. – Der Vorhang rauschte hinauf und man erlaube mir, ihn hier fallen zu lassen.