Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären - Kapitel 10
VIII. Noch einiges von den Staubwerkzeugen
§ 60.
Daß die Geschlechtstheile der Pflanzen durch die Spiralgefäße wie die übrigen Theile hervorgebracht werden, ist durch mikroscopische Beobachtungen außer allen Zweifel gesezt. Wir nehmen daraus ein Argument für die innere Identität der verschiedenen Pflanzentheile, welche uns bisher in so manigfaltigen Gestalten erschienen sind.
§ 61.
Wenn nun die Spiralgefäße in der Mitte der Saftgefäß-Bündel liegen, und von ihnen umschlossen werden; so können wir uns jene starke Zusammenziehung einigermaßen näher denken, wenn wir die Spiralgefäße, die uns wirklich als elastische Federn erscheinen, in ihrer höchsten Kraft gedenken, so daß sie überwiegend, hingegen die Ausdehnung der Saftgefäße subordinirt wird.
§ 62.
Die verkürzten Gefäßbündel können sich nun nicht mehr ausbreiten, sich einander nicht mehr aufsuchen und durch Anastomose kein Netz mehr bilden; die Schlauchgefäße, welche sonst die Zwischenräume des Netzes ausfüllen, können sich nicht mehr entwickeln, alle Ursachen wodurch Stengel- Kelch- und Blumenblätter sich in die Breite ausgedehnt haben, fallen hier völlig weg, und es entsteht ein schwacher höchst einfacher Faden.
§ 63.
Kaum daß noch die feinen Häutchen der Staubbeutel gebildet werden, zwischen welchen sich die höchst zarten Gefäße nunmehr endigen. Wenn wir nun annehmen, daß hier eben jene Gefäße, welche sich sonst verlängerten, ausbreiteten und sich einander wieder aufsuchten, gegenwärtig in einem höchst zusammen gezogenen Zustande sind: wenn wir aus ihnen nunmehr den höchst ausgebildeten Samenstaub hervor dringen sehen, welcher das durch seine Thätigkeit ersezt, was den Gefäßen die ihn hervorbringen an Ausbreitung entzogen ist: wenn er nun mehr losgelöst die weiblichen Theile aufsucht, welche den Staubgefäßen durch gleiche Wirkung der Natur entgegen gewachsen sind, wenn er sich fest an sie anhängt, und seine Einflüsse ihnen mittheilt: so sind wir nicht abgeneigt, die Verbindung der beyden Geschlechter eine geistige Anastomose zu nennen, und glauben wenigstens einen Augenblick die Begriffe von Wachsthum und Zeugung einander näher gerückt zu haben.
§ 64.
Die feine Materie, welche sich in den Antheren entwickelt, erscheint uns als ein Staub; diese Staubkügelchen sind aber nur Gefäße worin höchst feiner Saft aufbewahrt ist. Wir pflichten daher der Meynung derjenigen bey, welche behaupten, daß dieser Saft von den Pistillen an denen sich die Staubkügelchen anhängen, eingesogen und so die Befruchtung bewirkt werde. Es wird dieses um so wahrscheinlicher, da einige Pflanzen keinen Samenstaub, vielmehr nur eine bloße Feuchtigkeit absondern.
§ 65.
Wir erinnern uns hier des honigartigen Saftes der Necktarien, und dessen wahrscheinlicher Verwandtschaft mit der ausgearbeitetern Feuchtigkeit der Samenbläschen. Vielleicht sind die Necktarien vorbereitende Werkzeuge, vielleicht wird ihre honigartige Feuchtigkeit von den Staubgefäßen eingesogen, mehr determinirt und völlig ausgearbeitet; eine Meinung, die um so wahrscheinlicher wird, da man nach der Befruchtung diesen Saft nicht mehr bemerkt.
§ 66.
Wir lassen hier, obgleich nur im Vorbeygehen, nicht unbemerkt; daß sowohl die Staubfäden als Antheren verschiedentlich zusammengewachsen sind, und uns die wunderbarsten Beyspiele der schon mehrmals von uns angeführten Anastomose und Verbindung der in ihren ersten Anfängen wahrhaft getrennten Pflanzentheile zeigen.