Johann Wolfgang von Goethe
Der Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären - Kapitel 13
XI. Von den unmittelbaren Hüllen des Samens
§ 82.
Dagegen finden wir, daß der Same in dem höchsten Grade von Zusammenziehung und Ausbildung seines Innern sich befindet. Es läßt sich bey verschiedenen Samen bemerken daß er Blätter zu seinen nächsten Hüllen umbilde, mehr oder weniger sich anpasse, ja meistens durch seine Gewalt, sie völlig an sich schließe und ihre Gestalt gänzlich verwandle. Da wir oben mehrere Samen sich aus und in Einem Blatt entwickeln gesehn, so werden wir uns nicht wundern, wenn ein einzelner Samenkeim sich in eine Blatthülle kleidet.
§ 83.
Die Spuren solcher nicht völlig den Samen angepaßten Blattgestalten, sehen wir an vielen geflügelten Samen, z. B. des Ahorns, der Rüster, der Esche, der Birke. Ein sehr merkwürdiges Beyspiel, wie der Samenkeim breitere Hüllen nach und nach zusammen zieht und sich anpaßt, geben uns die drei verschiedenen Kreise verschiedengestalteter Samen der Calendel. Der äußerste Kreis behält noch eine mit den Kelchblättern verwandte Gestalt; nur daß eine, die Rippe ausdehnende Samenanlage das Blatt krümmt, und die Krümmung inwendig der Länge nach durch ein Häutchen in zwey Theile abgesondert wird. Der folgende Kreis hat sich schon mehr verändert, die Breite des Blättchens und das Häutchen haben sich gänzlich verlohren; dagegen ist die Gestalt etwas weniger verlängert, die in dem Rücken befindliche Samenanlage zeigt sich deutlicher und die kleinen Erhöhungen auf derselben sind stärker; diese beyden Reihen scheinen entweder gar nicht, oder nur unvollkommen befruchtet zu seyn. Auf sie folgt die dritte Samenreihe in ihrer ächten Gestalt stark gekrümmt, und mit einem völlig angepaßten, und in allen seinen Striefen und Erhöhungen völlig ausgebildeten Involucro. Wir sehen hier abermals eine gewaltsame Zusammenziehung ausgebreiteter blattähnlicher Theile, und zwar durch die innere Kraft des Samens, wie wir oben durch die Kraft der Anthere das Blumenblatt zusammengezogen gesehen haben.