Johann Wolfgang von Goethe
Der Triumph der Empfindsamkeit - Kapitel 2
                                                 Erster Act.

                                                       Saal,
                                  im guten Geschmacke decorirt.

                             Mana und Sora (begegnen einander).

Mana. Wo willst du hin, Sora?

Sora. In den Garten, Mana.

Mana. Hast du so viel Zeit? Wir erwarten den König jeden Augenblick; verliere dich nicht vom Schlosse.

Sora. Ich kann es unmöglich aushalten; ich bin den ganzen Tag noch nicht an die freye Luft gekommen.

Mana. Wo ist die Prinzessinn?

Sora. In ihrem Zimmer. Sie probirt mit der kleinen Mela einen Tanz, und läuft jeden Augenblick an's Fenster, zu sehen, ob der Bruder kommt.

Mana. Es ist eine rechte Noth, seitdem die großen Herren auf das Incognito gefallen sind. Man weiß gar nicht mehr, woran man ist. Sonst wurden sie Monathe lang voraus angekündigt, und wenn sie sich näherten, war Alles in Bewegung; die Couriere sprengten herbey, man konnte sich schicken und richten. Jetzo, eh' man sich's versieht, sind sie einem auf dem Nacken. Wahrhaftig, das letzte Mahl hat er mich in der Nachtmütze überrascht.

Sora. Darum warst du heute so früh fertig?

Mana. Ich finde keine Lust daran. – Wenn mir ein Fremder auf der Treppe begegnet, wird mir's immer bang'; ich denke gleich es ist wieder einmahl ein König oder ein Kaiser, der seinen gnädigen Spaß mit uns zu treiben kommt.

Sora. Dieß Mahl ist er nun gar zu Fuße. Andre lassen sich doch in's Gebirge zum Orakel in Sänften tragen, er nicht so; allein, mit einem tüchtigen Stabe in der Hand, trat er seine Reise an.
Mana. Schade, daß er nicht zu Theseus Zeiten gelebt hat!

                                      Feria (tritt auf), mit ihr Mela .

Feria. Seht ihr noch Niemand? Wenn ihm nur kein Unglück begegnet ist!

Sora. Seyd ruhig, meine Fürstinn. Die Gefahren und der üble Humor scheinen sich beyde vor ihm zu fürchten.

Feria. Er will mich nur einen Augenblick sprechen und dann gleich wieder fort.

Lato (tritt auf). Der König kommt.

Feria. Wohl! sehr wohl!

Lato. Ich sah hinüber in das Thal, und erblickte ihn eben als er über den Bach schritt.

Feria. Laßt uns ihm entgegen gehen.

Sora. Da ist er.

                                           Andrason (kommt).

Feria. Sey uns willkommen! herzlich willkommen!

Alle. Willkommen!
Andrason. Ich umarme dich, meine Schwester! Ich grüße euch, meine Kinder! Eure Freude macht mich glücklich, eure Liebe tröstet mich.

Feria. Mein Bruder, bedarfst du noch Trostes? Hat das Orakel dir keinen gegeben? Möchtest du doch immer vergnügt seyn! Möchte dir doch immer wohl seyn! Wir waren, seit du uns ehegestern verließest, voller Hoffnung für dich und dein Anliegen.

Mana. Majestät! –

Andrason. Schönheit!

Sora. Herr!

Andrason. Gebietherinn!

Lato. Wie soll man euch denn nennen?

Andrason. Ihr wißt, daß ihr keine Umstände mit mir machen sollt.

Mana (für sich). Nur damit er auch keine mit uns zu machen braucht.

Lato. Wir möchten von dem Orakel hören.

Sora. Hat das Orakel nichts Gutes gesagt?

Mela . Habt ihr das Orakel nicht unsertwegen gefragt?

Andrason. Liebe Kinder, das Orakel ist eben ein Orakel.
Lato. Sonderbar!

Andrason. Daß ein zartes Herz, voller Gefühle, Hoffnungen und Ahnungen, das einer ungewissen Zukunft sehnsuchtsvoll entgegen lebt, nach Würfeln hascht, den Becher schüttelt, Wurf über Wurf versucht, und in dem Glückstäfelchen sorgfältig forscht, was ihm die Würfe bedeuten, und dann fröhlich oder traurig einen halben Tag verlebt, das mag hingehn, mag recht gut seyn.

Lato (für sich). Woher er Alles weiß? Damit habe ich mich erst heute beschäftigt..

Andrason. Daß ein schönes Kind Puncte über Puncte tüpfelt, nachschlägt und sucht, was ihr für ein Gatte werden möchte? ob der Liebhaber treu ist? und so weiter, das find' ich wohlgethan.

Mela (für sich). Er ist ein Hexenmeister! Wenn wir allein sind, wissen wir uns nichts Bessers.

Andrason. Aber wer ein positives Übel, Zahnweh oder Unfrieden im Hause hat, der frage keinen Arzt und kein Orakel! Ihr Wissen und ihre Kunst fällt zu kurz: dieß und jenes Mittelchen, und vorzüglich Geduld, ist was sie euch empfehlen.

Feria. Kannst du, darfst du uns sagen? Hat's dir eine Antwort gegeben? Darfst du sie entdecken?

Andrason. Ich will sie in vier Sprachen übersetzen und an allen Landstraßen aufhängen lassen, es weiß doch kein Mensch was es soll.

Feria. Wie?

Andrason. Da ich ankomme und eingeführt werde –

Sora. Wie sieht's im Tempel aus?

Mana. Ist der recht prächtig?

Feria. Ruhe, ihr Mädchen!

Andrason. Wie mich die Priester zur heiligen Höhle bringen –

Mela . Die ist wohl schwarz und dunkel?

Andrason. Wie deine Augen. – Ich trete vor die Tiefe, und sage klar und vernehmlich: Geheimnißvolle Weisheit! hier tritt ein Mann auf, der sich bisher für den glücklichsten hielt; denn es geht ihm nichts ab; alles was die Götter einem Menschen Gutes zueignen können, schenkten sie mir, selbst das köstlichste aller Besitzthümer versagten sie mir nicht: ein treffliches Weib. Aber – ach! daß Aber und Aber sich immer zu dem Danke gesellen, den wir den Göttern zu bringen haben! – Diese Frau, dieses Muster der Liebe und Treue, nimmt seit kurzem unglücklicher Weise an einem Menschen Theil, der sich ihr aufdringt und der mir verhaßt ist. Dir, hohe Weisheit, der Alles bekannt ist, sag' ich nichts weiter, und bitte: enthülle mir mein Schicksal! gib mir Rath, und was mehr ist, Hülfe! – Ich dächte, das hieße sich deutlich erklären?

Lato. Wir verstehn es wohl.

Feria. Und die Antwort?

Andrason. Wer sagen könnte: ich verstehe sie!

Sora. Ich bin höchst neugierig – Haben wir doch manches Räthsel errathen!

Mela Geschwinde!

Andrason. Ich steh' und horche, und es fängt von unten auf an – erst leise – dann vernehmlich – dann vernehmlicher:

  Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert –

Alle. Oh!

Andrason. Gebt mir ein Licht. Das greifliche Gespenst soll entgeistert werden.

Lato. Von schönen Händen.

Andrason. Die fänden sich allenfalls. Ein greiflich Gespenst, das ist etwas aus der neuen Poesie, die mir immer unbegreiflich gewesen ist.

Feria. Es ist arg.

Andrason. Wartet nur und merkt; es kommt noch besser:

  Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert,
  Und der leinene Sack sein Eingeweide gibt her –

Alle. O! oh! Ey! O! ah! ha! ha!

Andrason. Seht ein leinen Gespenst, und ein greiflicher Sack, und Eingeweide von schönen Händen! Nein, was zu viel ist bleibt zu viel! Was so ein Orakel nicht Alles sagen darf!

Mana. Wiederhohlt es uns!

Andrason. Nicht wahr, ihr hört gar zu gerne was erhaben klingt, wenn ihr's gleich nicht versteht?

  Wenn wird ein greiflich Gespenst von schönen Händen entgeistert,
  Und der leinene Sack sein Eingeweide gibt her –

Seyd ihr nun klüger, meine Lieben? Nun aber merkt auf:

  Wird die geflickte Braut mit dem Verliebten vereinet:
  Dann kommt Ruhe und Glück, Fragender, über dein Haus.

Sora. Nein das ist nicht möglich!

Andrason. O ja; die Götter haben sich dieß Mahl sehr ihrer poetischen Freyheit bedient.

Lato. Habt ihr es nicht aufgeschrieben?

Andrason. Freylich! Hier ist die Rolle, wie ich sie aus den Händen der Priester erhielt.

Lato. Laßt es uns lesen, vielleicht wird es uns klärer.

  (Andrason bringt eine Rolle aus dem Gürtel und wickelt sie auf. Die Frauenzimmer drängen sich wechselsweise zu, lesen, lachen, und machen ihre Anmerkungen. Es kommt auf den guten Humor der Schauspielerinnen an, dieses munter und angenehm vorzustellen; deßwegen ihnen überlassen bleibt hier zu extemporiren Die Hauptabsicht dieser Wiederhohlung ist, daß das Publicum mit dem Orakelspruch recht bekannt werde.)

Feria. Das ist höchst sonderbar und unbegreiflich! Wie ist es dir weiter ergangen? Hast du nicht irgend eine Aufklärung gefunden?

Andrason. Nicht Aufklärung, aber Hoffnung. Verwundert über die unverschämte Dunkelheit der Antwort, aber nicht außer Fassung gebracht, trat ich aus der Höhle. Ich sah den ältesten Priester auf einem goldenen Sessel sitzen. Ich nahte mich ihm, und indem ich einige Edelsteine in seinen Schooß legte, rief ich aus: O welche Fülle der Weisheit kommt uns von den Göttern! Wie erleuchtet werden wir, die wir auf dunkeln Wegen irren, durch ihre Offenbarungen! Aber nicht rathen allein; helfen müssen die Unsterblichen. Der Jüngling, über den ich mich beklage, der mir das Leben verbittert, wird eh'stens hier erscheinen, voll Zutrauens und Gehorsams. Möge die Alles durchdringende Stimme der Götter ihn ergreifen, sein Herz fassen, und ihm gebiethen, nie wieder einen Fuß über meine Schwelle zu setzen! Mein Dank würde ohne Grenzen bleiben. – Der Alte nickte mit dem Kopfe, sein weißer Bart bewegte sich murmelnd; ich ging mit wechselnder Hoffnung und Sorgen zurück, und bin nun hier. –

Feria. Möge Alles zum Besten ausschlagen! – Du verzeihst, Bruder; ich muß vor der Tafel mit meinen Räthen, die schon lange warten, noch einige Geschäfte abthun; ich lasse dir die Kinder, unterhalte dich mit meinem muntern Geschlechte.

Andrason. Ich danke dir, Schwester. Wenn ich dich missen soll, weiß ich nichts Bessers als diese freundlichen Augen.

Feria. Bald seh' ich dich wieder. (Ab).

Sora Sagt uns nun, Herr, was ihr denkt.

Andrason. Von der geflickten Braut?

Sora. Ich meine, was ihr thun wollt.

Andrason. Thun! als ob das Orakel nichts gesagt hätte. Mit meinem Übel beladen wieder nach Hause gehn, und nach meiner Frau sehen, die ich in wunderbaren Zuständen anzutreffen fürchte.

Sora. Was macht sie denn indessen?

Andrason. Sie geht im Mondscheine spatzieren, schlummert an Wasserfällen, und hält weitläufige Unterredungen mit den Nachtigallen. Denn seitdem der Prinz weg ist, einen Zug durch seine Provinzen und hiernächst zum Orakel zu thun, ist's nicht anders, als ob ihre Seele in einen langen Faden gezogen wäre, der bis zu ihm hinüber reichte. Eins noch, an dem sie großes Vergnügen findet, ist, daß sie Monodramen aufführt.

Mana. Was sind das für Dinge?

Andrason. Wenn ihr Griechisch könntet, würdet ihr gleich wissen, daß das ein Schauspiel heißt, wo nur Eine Person spielt.

Lato. Mit wem spielt sie denn?

Andrason. Mit sich selbst, das versteht sich.

Lato. Pfuy, das muß ein langweilig Spiel seyn!

Andrason. Für den Zuschauer wohl. Denn eigentlich ist die Person nicht allein, sie spielt aber doch allein; denn es können noch mehr Personen dabey seyn, Liebhaber, Kammerjungfern, Najaden, Oreaden, Hamadryaden, Ehemänner, Hofmeister; aber eigentlich spielt sie für sich, es bleibt ein Monodrama. Es ist eben eine von den neuesten Erfindungen; es läßt sich nichts darüber sagen. Solche Dinge finden großen Beyfall.

Sora. Und das spielt sie ganz allein für sich?

Andrason. O ja! Oder, wenn etwa Dolch oder Gift zu bringen ist – denn es geht meistens etwas bunt her – wenn eine schreckliche Stimme aus dem Felsen oder durch's Schlüsselloch zu rufen hat, solche wichtige Rollen nimmt der Prinz über sich, wenn er da ist, oder in seiner Abwesenheit ihr Kammerdiener, ein sehr alberner Bursche; aber das ist eins.

Mela . Wir wollen auch einmahl so spielen.

Andrason. Laßt's doch gut seyn, und dankt Gott, daß es noch nicht bis zu euch gekommen ist! Wenn ihr spielen wollt, so spielt zu Zweyen wenigstens; das ist seit dem Paradiese her das Üblichste und das Gescheidteste gewesen. Nun noch eins, meine Besten, – daß wir die Zeit nicht mit fremden Dingen verplappern – meine Hoffnung wieder glücklich zu werden, ruht nicht allein bey den Göttern, sondern auch auf euch, ihr Mädchen.

Sora. Auf uns?

Andrason. Ja auf euch! und ich hoffe ihr werdet das Eure thun.

Mana. Wie soll das werden?

Andrason. Der Prinz, wenn er nach dem Orakel geht, wird hier vorbey kommen, euch seine Ehrerbiethung zu bezeigen, wie Fremde gewöhnlich thun, die diesen Weg nehmen. Meine Schwester wird artig seyn und ihm Quartier anbiethen; ihm anbiethen, daß sie seine Leute, sein Gepäcke beherbergen will, indeß er sich in's Gebirge nach dem Orakel tragen läßt, wo Jeder, er sey wer er wolle, allein, ohne Gefolge anlangen muß. Wenn er nun kommt, meine Besten, so sucht sein Herz zu rühren. – Ihr seyd liebenswürdig. Ich will die als eine Göttinn verehren, die ihn an sich zieht und mich von ihm befreyt.

Sora. Gut! Euch ist er unerträglich, und uns wollt ihr ihn zuschieben! Wenn er uns nun auch unerträglich ist?

Andrason. Seyd ruhig, Kinder! Das findet sich. Ihr Andern liebt meisten Theils an den Männern was Männer an sich unter einander nicht leiden können. Und gewiß er ist so übel nicht, und wäre, denk' ich, noch zu curiren.

Mela . Wie sollen wir es denn anfangen?

Andrason Bravo, liebes Kind! du zeigst doch guten Willen! Ich muß erst eure Anlagen ein wenig kennen lernen. Laßt sehn! Stellt euch vor, ich sey der Prinz; ich will ankommen, schmachtend und traurig thun – wie wollt ihr mich empfangen?

                (Sie beginnen einen lebhaften Tanz.)

Andrason. Nicht doch, Kinder, nicht doch! Meint ihr, daß alles Wild nach Einer Witterung geht? Mit einem solchen Bauerntanz wollt ihr meinen sublimirten Helden gewinnen? Nein! seht auf mich! das muß in einem anderen Geiste tractirt werden.

(Er macht ihnen die hergebrachten Bewegungen vor, womit die Schauspieler gewöhnlich die Empfindungen auszudrücken denken.)

Andrason. Habt ihr wohl Acht gegeben, Kinder? Erstlich, immer den Leib vorwärts gebogen, und mit den Knien geknickt, als wenn ihr kein Mark in den Knochen hättet! Hernach immer eine Hand an der Stirne und eine am Herzen, als wenn's euch in Stücken springen wollte; mitunter tief Athem gehohlt, und so weiter. Die Schnupftücher nicht vergessen!

(Die Musik geht fort, und die Fräulein befolgen seine Vorschrift. Er stellt den Prinzen vor; bald corrigirt er sie, bald nimmt er die Person des Prinzen wieder an; endlich hört man eine Trompete in der Ferne.)

Andrason. Aha!

Lato. Es wird aufgetragen.

Andrason. Es heißt zu Pferde, und zu Tische! Beydes eine schöne Einladung. Kommt, diese Empfindsamkeit zuletzt hat mich hungriger gemacht, als meine Reisen bisher.