Johann Wolfgang von Goethe
Stella - Kapitel 5
                                             Vierter Akt
                                   Einsiedelei in Stellas Garten

                                             Stella allein.

Stella.
Du blühst schön, schöner als sonst, liebe, liebe Stätte der gehofften ewigen Ruhe – Aber du lockst mich nicht mehr – mir schaudert vor dir – kühle lockre Erde, mir schaudert vor dir – – Ach wie oft, in Stunden der Einbildung, hüllt ich schon Haupt und Brust dahingegeben in den Mantel des Todes, und stand gelassen an deiner Tiefe, und schritt hinunter, und verbarg mein jammervolles Herz unter deine lebendige Decke. Da solltest du, Verwesung, wie ein liebes Kind, diese überfüllte, drängende Brust aussaugen, und mein ganzes Dasein in einen freundlichen Traum auflösen – Und nun! – Sonne des Himmels, du scheinst herein – es ist so licht, so offen um mich her, und ich freue mich des! – Er ist wieder da! – und in einem Wink steht rings um mich die Schöpfung lebevoll – und ich bin ganz Leben – – und neues, wärmeres, glühenderes Leben will ich von seinen Lippen trinken! – Zu ihm – bei ihm – mit ihm in bleibender Kraft wohnen! – Fernando! – Er kommt! Horch! – Nein, noch nicht! – – Hier soll er mich finden, hier an meinem Rasenaltar, unter meinen Rosenzweigen! Diese Knöspchen will ich ihm brechen – – Hier! Hier! – Und dann führ ich ihn in diese Laube. Wohl, wohl war's, daß ich sie doch, so eng sie ist, für zwei eingerichtet habe – Hier lag sonst mein Buch, stand mein Schreibzeug – Weg Buch und Schreibzeug! – Käm er nur! – Gleich verlassen! – Hab ich ihn denn wieder? – Ist er da? –

                                                 Fernando kommt.

Stella.
Wo bleibst du, mein Bester? Wo bist du? Ich bin lang, lang allein!
Ängstlich.
Was hast du?

Fernando.
Die Weiber haben mich verstimmt! – Die Alte ist eine brave Frau; sie will aber nicht bleiben, will keine Ursache sagen, sie will fort. Laß sie, Stella.

Stella.
Wenn sie nicht zu bewegen ist, ich will sie nicht wider Willen – Und, Fernando, ich brauchte Gesellschaft – und jetzt –
an seinem Hals
jetzt, Fernando! Ich habe dich ja!

Fernando.
Beruhige dich!
Stella.
Laß mich weinen! Ich wollte, der Tag wäre vorbei! Noch zittern mir alle Gebeine! – Freude! – Alles unerwartet auf einmal! Dich, Fernando! Und kaum! kaum! Ich werde vergehen in diesem allen!

Fernando vor sich.
Ich Elender! Sie verlassen?
Laut.
Laß mich, Stella!

Stella.
Es ist deine Stimme, deine liebende Stimme! – Stella! Stella! – Du weißt, wie gern ich diesen Namen aussprechen hörte: – Stella! Es spricht ihn niemand aus wie du. Ganz die Seele der Liebe in dem Klang! – Wie lebhaft ist mir noch die Erinnerung des Tags, da ich dich ihn zuerst aussprechen hörte, da all mein Glück in dir begann!

Fernando.
Glück?

Stella.
Ich glaube, du fängst an zu rechnen; rechnest die trüben Stunden, die ich mir über dich gemacht habe. Laß, Fernando! Laß! – O! seit dem Augenblick, da ich dich zum ersten Mal sah, wie ward alles so ganz anders in meiner Seele! Weißt du den Nachmittag im Garten, bei meinem Onkel? Wie du zu uns hereintratst? Wir saßen unter den großen Kastanienbäumen hinter dem Lusthaus! –

Fernando vor sich.
Sie wird mir das Herz zerreißen! – –
Laut.
Ich weiß noch, meine Stella!

Stella.
Wie du zu uns tratst? Ich weiß nicht, ob du bemerktest, daß du im ersten Augenblick meine Aufmerksamkeit gefesselt hattest? Ich wenigstens merkte bald, daß deine Augen mich suchten. Ach, Fernando! da brachte mein Onkel die Musik, du nahmst deine Violine, und wie du spieltest, lagen meine Augen sorglos auf dir; ich spähte jeden Zug in deinem Gesicht, und – in einer unvermuteten Pause schlugst du die Augen auf – auf mich! sie begegneten den meinigen! Wie ich errötete, wie ich wegsah! Du hast es bemerkt, Fernando; denn von der Zeit an fühlt ich wohl, daß du öfter über dem Blatt wegsahst, oft zur ungelegenen Zeit, aus dem Takt kamst, daß mein Onkel sich zertrat. Jeder Fehlstrich, Fernando, ging mir durch die Seele – Es war die süßeste Konfusion, die ich in meinem Leben gefühlt habe. Um alles Gold hätt ich dich nicht wieder grad ansehen können. Ich machte mir Luft und ging –

Fernando.
Bis auf den kleinsten Umstand! –
Vor sich.
Unglückliches Gedächtnis!
Stella.
Ich erstaune oft selbst: wie ich dich liebe, wie ich jeden Augenblick bei dir mich ganz vergesse; doch alles vor mir noch zu haben, so lebhaft, als wär's heute! Ja, wie oft hab ich mir's auch erzählt, wie oft, Fernando! – Wie ihr mich suchtet, wie du an der Hand meiner Freundin, die du vor mir kennen lerntest, durchs Boskett streiftest, und sie rief: Stella! – und du riefst: Stella! Stella! – Ich hatte dich kaum reden gehört, und erkannte deine Stimme; und wie ihr auf mich traft, und du meine Hand nahmst! Wer war konfuser, ich oder du? Eins half dem andern – Und von dem Augenblick an – Meine gute Sara sagte mir's wohl, gleich selbigen Abend – Es ist alles eingetroffen – und welche Seligkeit in deinen Armen! Wenn meine Sara meine Freuden sehen könnte! Es war ein gutes Geschöpf; sie weinte viel um mich, da ich so krank, so liebeskrank war. Ich hätte sie gern mitgenommen, da ich um deinetwillen alles verließ.

Fernando.
Alles verließ!

Stella.
Fällt dir das so auf? Ist's denn nicht wahr? Alles verließ! Oder kannst du in Stellas Munde so was zum Vorwurf mißdeuten? Um deinetwillen hab ich lange nicht genug getan.

Fernando.
Freilich! Deinen Onkel, der dich als Vater liebte, der dich auf den Händen trug, dessen Wille dein Wille war, das war nicht viel? Das Vermögen, die Güter, die alle dein waren, dein worden wären, das war nichts? Den Ort, wo du von Jugend auf gelebt, dich gefreut hattest – deine Gespielen –

Stella.
Und das alles, Fernando, ohne dich? Was war mir's vor deiner Liebe? Aber da, als die in meiner Seele aufging, da hatt ich erst Fuß in der Welt gefaßt. – Zwar muß ich dir gestehn, daß ich manchmal in einsamen Stunden dachte: Warum konnt ich das nicht alles mit ihm genießen? Warum mußten wir fliehen? Warum nicht im Besitz von dem allen bleiben? Hätte ihm mein Onkel meine Hand verweigert? – Nein! – Und warum fliehen? – O ich habe für dich wieder Entschuldigungen genug gefunden! für dich! da hat mir's nie gemangelt! Und wenn's Grille wäre, sagte ich – wie ihr denn eine Menge Grillen habt –, wenn's Grille wäre, das Mädchen so heimlich als Beute für sich zu haben! – Und wenn's Stolz wäre, das Mädchen so allein ohne Zugabe zu haben. Du kannst denken, daß mein Stolz nicht wenig dabei interessiert war, sich das Beste glauben zu machen; und so kamst du nun glücklich durch.

Fernando.
Ich vergehe!

                                                 Annchen kommt.

Annchen.
Verzeihen Sie, gnädige Frau! Wo bleiben Sie, Herr Hauptmann? Alles ist aufgepackt, und nun fehlt's an Ihnen! Die Mamsell hat schon ein Laufens, ein Befehlens heut verführt, daß es unleidlich war; und nun bleiben Sie aus!

Stella.
Geh, Fernando, bring sie hinüber; zahl das Postgeld für sie, aber sei gleich wieder da.
Annchen.
Fahren Sie denn nicht mit? Die Mamsell hat eine Chaise zu dreien bestellt, Ihr Bedienter hat ja aufgepackt!

Stella.
Fernando, das ist ein Irrtum!

Fernando.
Was weiß das Kind?

Annchen.
Was ich weiß? Freilich sieht's kurios aus, daß der Herr Hauptmann mit dem Frauenzimmer fort will, von der gnädigen Frau; seit sie bei Tisch Bekanntschaft mit Ihnen gemacht hat. Das war wohl ein zärtlicher Abschied, als Sie ihr zur gesegneten Mahlzeit die Hand drückten?

Stella verlegen.
Fernando!

Fernando.
Es ist ein Kind!

Annchen.
Glauben Sie's nicht, gnädige Frau! es ist alles aufgepackt; der Herr geht mit.

Fernando.
Wohin? Wohin?

Stella.
Verlaß uns, Annchen!
Annchen ab.
Reiß mich aus der entsetzlichen Verlegenheit! Ich fürchte nichts, und doch ängstet mich das Kindergeschwätz. – Du bist bewegt! Fernando! – Ich bin deine Stella!

Fernando, sich umwendend und sie bei der Hand fassend.
Du bist meine Stella!

Stella.
Du erschreckst mich, Fernando! du siehst wild.

Fernando.
Stella! ich bin ein Bösewicht, und feig; und vermag vor dir nichts. Fliehen! – Hab das Herz nicht, dir den Dolch in die Brust zu stoßen, und will dich heimlich vergiften, ermorden! Stella!

Stella.
Um Gottes willen!

Fernando mit Wut und Zittern.
Und nur nicht sehn ihr Elend, nicht hören ihre Verzweiflung! Fliehen! –

Stella.
Ich halt's nicht aus!
Sie will sinken und hält sich an ihn.

Fernando.
Stella, die ich in meinen Armen fasse! Stella! die du mir alles bist! Stella! –
Kalt.
Ich verlasse dich!

Stella verwirrt lächelnd.
Mich!

Fernando mit Zähneknirschen.
Dich! mit dem Weibe, das du gesehen hast! mit dem Mädchen! –

Stella.
Es wird so Nacht!

Fernando.
Und dieses Weib ist meine Frau! –

Stella, sieht ihn starr an und läßt die Arme sinken.

Fernando.
Und das Mädchen ist meine Tochter! Stella!
Er bemerkt erst, daß sie in Ohnmacht gefallen ist.
Stella!
Er bringt sie auf seinen Sitz.
Stella! – Hülfe! Hülfe!

                                       Cäcilie, Lucie kommen.

Fernando.
Seht! seht den Engel! Er ist dahin! Seht! – Hülfe!

                                Sie bemühen sich um sie.

Lucie.
Sie erholt sich.

Fernando. stumm sie ansehend.
Durch dich! Durch dich!
Ab.

Stella.
Wer? Wer? –
Aufstehend.
Wo ist er?
Sie sinkt zurück, sieht die an, die sich um sie bemühen.
Dank euch! Dank! – Wer seid ihr? –

Cäcilie.
Beruhigen Sie sich! Wir sind's.

Stella.
Ihr? – Seid ihr nicht fort? – Seid ihr –? Gott! wer sagte mir's? – Wer bist du? – Bist du –?
Cäcilie bei den Händen fassend.
Nein! ich halt's nicht aus!

Cäcilie.
Beste! Liebste! Ich schließ dich Engel an mein Herz.

Stella.
Sag mir – es liegt tief in meiner Seele – Sag mir – bist du –

Cäcilie.
Ich bin – ich bin sein Weib! –

Stella, aufspringend, sich die Augen zuhaltend.
Und ich? –
Sie geht verwirrt auf und ab.

Cäcilie.
Kommen Sie in Ihr Zimmer!

Stella.
Woran erinnerst du mich? Was ist mein? Schrecklich! Schrecklich! – Sind das meine Bäume, die ich pflanzte, die ich erzog? Warum in dem Augenblick mir alles so fremd wird? – Verstoßen! – Verloren! – Verloren auf ewig! Fernando! Fernando!

Cäcilie.
Geh, Lucie, such deinen Vater.

Stella.
Um Gottes Barmherzigkeit! Halt! – Weg! Laß ihn nicht kommen! Entfern dich! – Vater! – Gatte! –

Cäcilie.
Süße Liebe!

Stella.
Du liebst mich? Du drückst mich an deine Brust? – – Nein! Nein – Laß mich! – Verstoß mich!
An ihrem Halse.
Noch einen Augenblick! Es wird bald aus mit mir sein! Mein Herz! Mein Herz!

Lucie.
Sie müssen ruhen!

Stella.
Ich ertrag euern Anblick nicht! Euer Leben hab ich vergiftet, euch geraubt euer Alles – Ihr im Elend; und ich – welche Seligkeit in seinen Armen!
Sie wirft sich auf die Kniee.
Könnt ihr mir vergeben?

Cäcilie.
Laß! Laß!
Sie bemühen sich, sie aufzuheben.

Stella.
Hier will ich liegen, flehn, jammern, zu Gott und euch: Vergebung! Vergebung! –
Sie springt auf.
– Vergebung? – Trost gebt mir! Trost! Ich bin nicht schuldig! – Du gabst mir ihn, heiliger Gott im Himmel! ich hielt ihn fest, wie die liebste Gabe aus deiner Hand – Laß mich! – Mein Herz zerreißt! –

Cäcilie.
Unschuldige! Liebe!

Stella an ihrem Halse.
Ich lese in deinen Augen, auf deiner Lippe Worte des Himmels. Halt mich! Trag mich! Ich gehe zugrunde! Sie vergibt mir! Sie fühlt mein Elend!

Cäcilie.
Schwester! meine Schwester! erhole dich! nur einen Augenblick erhole dich! Glaube, daß, der in unser Herz diese Gefühle legte, die uns oft so elend machen, auch Trost und Hülfe dafür bereiten kann.

Stella.
An deinem Hals laß mich sterben!

Cäcilie.
Kommen Sie! –

Stella, nach einer Pause, wild wegfahrend.
Laßt mich alle! Sieh, es drängt sich eine Welt voll Verwirrung und Qual in meine Seele, und füllt sie ganz mit unsäglichen Schmerzen – Es ist unmöglich – unmöglich! So auf einmal! – Ist nicht zu fassen, nicht zu tragen! –
Sie steht eine Weile niedersehend still, in sich gekehrt, sieht dann auf, erblickt die beiden, fährt mit einem Schrei zusammen und entflieht.

Cäcilie.
Geh ihr nach, Lucie! Beobachte sie!
Lucie ab.
Sieh herab auf deine Kinder, und ihre Verwirrung, ihr Elend! – Leidend lernt ich viel. Stärke mich! – Und kann der Knoten gelöst werden, heiliger Gott im Himmel! zerreiß ihn nicht.