Johann Wolfgang von Goethe
Die Geschwister - Kapitel 4
Fabrice. Ich mag nichts weiter hören, und zu sagen hab' ich auch nichts. Also adieu! (Ab.)

Wilhelm. Geh nur! – Du trägst sie alle mit dir weg, meine ganze Seligkeit. So weggeschnitten, weggebrochen alle Aussichten – die nächsten – auf einmal – Am Abgrunde! Und zusammengestürzt die goldne Zauberbrücke, die mich in die Wonne der Himmel hinüberführen sollte – Weg! und durch ihn, den Verräter, der so mißbraucht hat die Offenheit, das Zutrauen! – – O Wilhelm! Wilhelm! du bist so weit gebracht, daß du gegen den guten Menschen ungerecht sein mußt? – Was hat er verbrochen? – – – Du liegst schwer über mir und bist gerecht, vergeltendes Schicksal! – Warum stehst du da? und du? Just in dem Augenblicke! – Verzeiht mir! Hab' ich nicht gelitten dafür? – Verzeiht! es ist lange! – Ich habe unendlich gelitten. Ich schien euch zu lieben, ich glaubte euch zu lieben; mit leichtsinnigen Gefälligkeiten schloß ich euer Herz auf und machte euch elend! – – Verzeiht und laßt mich – Soll ichso gestraft werden? – Soll ich Mariannen verlieren, die letzte meiner Hoffnungen, den Inbegriff meiner Sorgen? – Es kann nicht! es kann nicht! (Er bleibt stille.)

                                        (Marianne kommt.)

Marianne (naht verlegen). Bruder!

Wilhelm. Ah!

Marianne. Lieber Bruder, du mußt mir vergeben, ich bitte dich um alles. Du bist böse, ich dacht' es wohl. Ich habe eine Torheit begangen – es ist mir ganz wunderlich.

Wilhelm (sich zusammennehmend). Was hast du, Mädchen?

Marianne. Ich wollte, daß ich dir's erzählen könnte. – Mir geht's so konfus im Kopf herum. – Fabrice will mich zur Frau, und ich –

Wilhelm (halb bitter). Sag's heraus, du schlägst ein?

Marianne. Nein, nicht ums Leben! Nimmermehr werd' ich ihn heiraten! ich kann ihn nicht heiraten.

Wilhelm. Wie anders klingt das!

Marianne. Wunderlich genug. Du bist gar unhold, Bruder; ich ginge gern und wartete eine gute Stunde ab, wenn mir's nicht gleich vom Herzen müßte. Ein für allemal, ich kann Fabricen nicht heiraten.

Wilhelm (steht auf und nimmt sie bei der Hand.) Wie, Marianne?
Marianne. Er war da und redete so viel und stellte mir so allerlei vor, daß ich mir einbildete, es wäre möglich. Er drang so, und in der Unbesonnenheit sagt' ich, er sollte mit dir reden. – Er nahm das als Jawort, und im Augenblicke fühlt' ich, daß es nicht werden konnte.

Wilhelm. Er hat mit mir gesprochen.

Marianne. Ich bitte dich, was ich kann und mag, mit all der Liebe, die ich zu dir habe, bei all der Liebe, mit der du mich liebst, mach es wieder gut, bedeut ihn.

Wilhelm (für sich). Ewiger Gott!

Marianne. Sei nicht böse! Er soll auch nicht böse sein. Wir wollen wieder leben wie vorher und immer so fort. – Denn nur mit dir kann ich leben, mit dir allein mag ich leben. Es liegt von jeher in meiner Seele, und dieses hat's herausgeschlagen, gewaltsam herausgeschlagen – Ich liebe nur dich!

Wilhelm. Marianne!

Marianne. Bester Bruder! Diese Viertelstunde über – ich kann dir nicht sagen, was in meinem Herzen auf- und abgerannt ist. – Es ist mir wie neulich, da es auf dem Markte brannte und erst Rauch und Dampf über alles zog, bis auf einmal das Feuer das Dach hob und das ganze Haus in einer Flamme stand. – Verlaß mich nicht! stoß mich nicht von dir, Bruder!

Wilhelm. Es kann doch nicht immer so bleiben.

Marianne. Das eben ängstet mich so! – Ich will dir gern versprechen, nicht zu heiraten, ich will immer für dich sorgen, immer, immer so fort. – Da drüben wohnen so ein paar alte Geschwister zusammen; da denk' ich manchmal zum Spaß: wenn du so alt und schrumpflich bist, wenn ihr nur zusammen seid!

Wilhelm (sein Herz haltend, halb für sich). Wenn du das aushältst, bist du nie wieder zu enge.

Marianne. Dir ist's nun wohl nicht so; du nimmst doch wohl eine Frau mit der Zeit, und es würde mir immer leid tun, wenn ich sie auch noch so gern lieben wollte – Es hat dich niemand so lieb wie ich; es kann dich niemand so lieb haben.(Wilhelm versucht zu reden.) Du bist immer so zurückhaltend, und ich hab's immer im Munde, dir ganz zu sagen, wie mir's ist, und wag's nicht. Gott sei Dank, daß mir der Zufall die Zunge löst.

Wilhelm. Nichts weiter. Marianne!

Marianne. Du sollst mich nicht hindern, laß mich alles sagen! Dann will ich in die Küche gehen und tagelang an meiner Arbeit sitzen, nur manchmal dich ansehen, als wollt' ich sagen: du weißt's! – (Wilhelm stumm in dem Umfange seiner Freuden.) Du konntest es lange wissen, du weißt's auch, seit dem Tod unserer Mutter, wie ich aufkam aus der Kindheit und immer mit dir war. – Sieh, ich fühle mehr Vergnügen, bei dir zu sein, als Dank für deine mehr als brüderliche Sorgfalt. Und nach und nach nahmst du so mein ganzes Herz, meinen ganzen Kopf ein, daß jetzt noch etwas anders Mühe hat, ein Plätzchen drin zu gewinnen. Ich weiß wohl noch, daß du manchmal lachtest, wenn ich Romanen las; es geschah einmal mit der Julie Mandeville, und ich fragte, ob der Heinrich, oder wie er heißt, nicht ausgesehen habe wie du? – Du lachtest – das gefiel mir nicht. Da schwieg ich ein andermal still. Mir war's aber ganz ernsthaft; denn was die liebsten, die besten Menschen waren, die sahen bei mir alle aus wie du. Dich sah ich in den großen Gärten spazieren, und reiten, und reisen, und sich duellieren – – (Sie lacht für sich.)
Wilhelm. Wie ist dir?

Marianne. Daß ich's ebensomehr auch gestehe: wenn eine Dame recht hübsch war und recht gut und recht geliebt – und recht verliebt – das war ich immer selbst. – Nur zuletzt, wenn's an die Entwicklung kam und sie sich nach allen Hindernissen noch heirateten – – Ich bin doch auch gar ein treuherziges, gutes, geschwätziges Ding!

Wilhelm. Fahr fort! (Weggewendet.) Ich muß den Freudenkelch austrinken. Erhalte mich bei Sinnen, Gott im Himmel!

Marianne. Unter allem konnt' ich am wenigsten leiden, wenn sich ein paar Leute liebhaben, und endlich kommt heraus, daß sie verwandt sind, oder Geschwister sind – Die Miß Fanny hätt' ich verbrennen können! – Ich habe so viel geweint! Es ist so ein gar erbärmlich Schicksal!

                           (Sie wendet sich und weint bitterlich.)

Wilhelm (auffahrend an ihrem Hals). Marianne! meine Marianne!

Marianne. Wilhelm! nein! nein! Ewig lass' ich dich nicht! Du bist mein! – Ich halte dich! ich kann dich nicht lassen!

                                            (Fabrice tritt auf.)

Marianne. Ha, Fabrice, Sie kommen zur rechten Zeit! Mein Herz ist offen und stark, daß ich's sagen kann. Ich habe Ihnen nichts zugesagt, Sei'n Sie unser Freund! heiraten werd' ich Sie nie.

Fabrice (kalt und bitter). Ich dacht' es, Wilhelm, wenn du dein ganzes Gewicht auf die Schale legtest, mußt' ich zu leicht erfunden werden. Ich komme zurück, daß ich mir vom Herzen schaffe, was doch herunter muß. Ich gebe alle Ansprüche auf und sehe, die Sachen haben sich schon gemacht; mir ist wenigstens lieb, daß ich unschuldige Gelegenheit dazu gegeben habe.

Wilhelm. Lästre nicht in dem Augenblick und raub dir nicht ein Gefühl, um das du vergebens in die weite Welt wallfahrtetest! Siehe hier das Geschöpf – sie ist ganz mein – – und sie weiß nicht –

Fabrice (halb spottend). Sie weiß nicht?

Marianne. Was weiß ich nicht?
Wilhelm. Hier lügen, Fabrice –?

Fabrice (getroffen). Sie weiß nicht?

Wilhelm. Ich sag's.

Fabrice. Behaltet einander, ihr seid einander wert!

Marianne. Was ist das?

Wilhelm (ihr um den Hals fallend). Du bist mein, Marianne!

Marianne. Gott! was ist das? – Darf ich dir diesen Kuß zurückgeben? – Welch ein Kuß war das, Bruder?

Wilhelm. Nicht des zurückhaltenden, kaltscheinenden Bruders, der Kuß eines ewig einzig glücklichen Liebhabers. – (Zu ihren Füßen.) Marianne, du bist nicht meine Schwester! Charlotte war deine Mutter, nicht meine.

Marianne. Du! du!

Wilhelm. Dein Geliebter! – von dem Augenblicke an dein Gatte, wenn du ihn nicht verschmähst.

Marianne. Sag mir, wie war's möglich? –

Fabrice. Genießt, was euch Gott selbst nur einmal geben kann! Nimm es an, Marianne, und frag nicht. – Ihr werdet noch Zeit genug finden, euch zu erklären.

Marianne (ihn ansehend). Nein, es ist nicht möglich!

Wilhelm. Meine Geliebte! meine Gattin!

Marianne (an seinem Hals). Wilhelm, es ist nicht möglich!