Hildegard Knef
Die alte Frau
Vor sechzig Jahren war sie jung
Und wurde konfirmiert
Errötend und erwartungsvoll
Zum ersten Mal frisiert
Drei Jahr' danach war sie verlobt
Des Vaters Wunsch erfüllt
Die Hochzeitsnacht war in Stettin
Die Sehnsucht ungestillt
Und heute geht sie die Straße entlang
Spricht laut mit ihrem Hund
Erzählt ihm, wie schön es damals war
Von Kindern, Krieg, bestandner Gefahr
Nur manchmal zittert ihr Mund
Ja, Wilhelm war ihr einz'ger Mann
Sie hatte ihn ganz gern
Und Liebe, davon sprach man nicht
So manches blieb ihr fern
Ob sie mal schön war, weiß sie nicht
Er hat es nie erwähnt
Sie weinte, als er plötzlich starb
Sie war an ihn gewöhnt
Und heute geht sie die Straße entlang
Spricht laut mit ihrem Hund
Erzählt ihm von dem, was doch niemals war
Champagnersoupers, Diademen im Haar
Nur manchmal zittert ihr Mund
Ihr Sohn, der schickte manchmal Geld
Zum Schreiben kam er nie
Den Brief der Tochter las sie oft
Er war voll Poesie
Vom Enkel hat sie nur ein Bild
Sie hat ihn nie geseh'n
Der Schwiegersohn hat's nicht gewollt
Sie war ihm unbequem
Und heute geht sie die Straße entlang
Spricht laut mit ihrem Hund
Erzählt ihm, wie selten sie glücklich war
Von ihrem Rheuma, der Angst, dem Katarrh
Und wieder zittert ihr Mund